Dunkle Wolken über’m Bosporus

sauter-2Die erste Informationsveranstaltung, die seemoz e.V. organisierte, bot den rund vierzig BesucherInnen im Treffpunkt Petershausen interessante Einblicke in die jetzigen Zustände in der Türkei. „Wohin steuert die Türkei? – Türkisches Roulette“, so der Titel des Vortrags von Dieter Sauter, dem ehemaligen ARD-Korrespondenten in Istanbul und ausgesprochenem Kenner der Verhältnisse in der Türkei.

Nach einer kurzen Einführung von Moderator Pit Wuhrer widmete sich Sauter ausführlich dem gescheiterten Militärputsch. Wer hat tatsächlich die Strippen gezogen? Hatte sogar Erdogan selber die Hände im Spiel, um unliebsame Oppositionelle aus dem Verkehr zu ziehen? Da, so Sauter, kursierten unterschiedliche Gerüchte, die immer noch viel Platz ließen für Spekulationen jedweder Art. Klar für ihn ist: Gut vorbereitet war der Umsturzversuch durchaus, die Ausführung aber sei dann eher „dilettantisch“ verlaufen. Da alle gesellschaftlich relevanten Gruppen sowie Teile der Armee den Putsch nicht unterstützten und auch der Geheimdienst in letzter Minute Wind davon bekam und gegensteuern konnte, musste der Umsturzversuch zwangsläufig scheitern.

Rückschritt um 20 Jahre

Und das war auch gut so, erklärte Sauter: „Hätte der Putsch geklappt, wäre das Land um fünfzig Jahre zurückgeworfen worden, jetzt „nur“ um zwanzig Jahre“. Ein schwacher Trost, da war man sich einig, denn Erdogan hat seitdem mit diktatorischer Hand durchgegriffen: Zehntausende wurden verhaftet, die Justiz hat ihre letzten Reste von Unabhängigkeit verloren, der Presse werden Daumenschrauben angelegt, der Krieg gegen die Kurden eskaliert erneut, das Land befindet sich teilweise in einem Bürgerkrieg und der kürzlich verlängerte Ausnahmezustand verschärft die Situation zusätzlich.

Auf die Frage, warum Erdogans AKP dennoch von einem Großteil der Bevölkerung, vor allem außerhalb der Metropolen, unterstützt wird, konnte Sauter einige nachvollziehbare Gründe anführen. Mit der Machtübernahme durch die AKP (Erdogans Regierungspartei, Anm.d.Red.) habe sich der Lebensstandard für viele TürkInnen verbessert: Ein riesiges Wohnungsbauprogramm wurde aufgelegt, Gesundheitskarten für rund fünf Millionen Arme sorgten für eine verbesserte Gesundheitsversorgung und Erdogan, so Sauter, „hat über Jahre hinweg eine geschickte und kluge Sozialpolitik für das AKP-Klientel in Gang gesetzt“.

Niedergang der Wirtschaft

Kein Wunder also, dass Erdogans Popularität in den vergangenen Jahren ständig gestiegen ist. Allerdings, auch das räumte Sauter ein, bröckle diese langsam, denn der wirtschaftliche Niedergang sei offensichtlich: “Es gibt zu wenig Arbeit für die Heranwachsenden, der Export stagniert und das Land muss zunehmend teure Gas- und Ölimporte finanzieren“. Außerdem befände sich der Tourismus am Boden: „ Eine schlechte Saison wie dieses Jahr ist verkraftbar, eine zweite aber sicher nicht“. Insgesamt, so der Referent wenig hoffnungsvoll, „eine höchst gefährliche Lage“.

Wie es um die oppositionelle Gezi-Bewegung stünde, wollten andere wissen. Was ist aus deren Widerstand gegen Erdogan geworden, der, so lange ist das noch gar nicht her, Zehntausende auf die Straßen getrieben hat? Ja, so Sauter, „die gibt es noch, aber man muss ihnen Zeit lassen, sich neu zu formieren“. Momentan sei es aber nicht ratsam, offen gegen die Regierung aufzutreten: „Die Aggressivität im Land hat seit dem Putschversuch stark zugenommen, die Knäste sind voll, der Druck auf Oppositionelle wächst ständig und die AKP-Anhänger im ganzen Land treten als eine Art Ordnungsmacht auf“. Wer sich da öffentlich entgegen stelle, müsse mit dem Schlimmsten rechnen.

Eine katzbuckelnde EU

Warum, so eine Frage aus dem Publikum, verhält sich die EU trotz der diktatorischen Verhältnisse in der Türkei derart zahm und katzbuckelt vor dem selbsternannten Sultan? „Was glauben Sie denn“, fragte Dieter Sauter trocken zurück, „was passiert, wenn neben den Nachbarstaaten Syrien und Irak auch noch die Türkei völlig auseinanderbricht?“ Das Land am Bosporus sei in den Augen der EU noch „eine zumindest halbwegs existierende Konstante in dieser Krisenregion“. Auch das ein schwacher Trost in ziemlich desolaten Zeiten.

Nach gut zwei Stunden endete eine Veranstaltung, die sowohl interessante als auch ernüchternde Erkenntnisse bot und den BesucherInnen reichlich schwere Kost mit nach Hause gab. Aber was anderes war bei einer Bestandsaufnahme über die momentanen Verhältnisse in der Türkei wohl auch nicht zu erwarten.

Für den neugegründeten Verein seemoz e.V. war der Abend mit Dieter Sauter ein gelungener Auftakt für eine geplante Veranstaltungsreihe, die sich in Zukunft auch verstärkt mit medienpolitischen Themen beschäftigen wird. Nähere Informationen dazu alsbald auf dieser Seite.

H. Reile