Eine Abgeordnete verzichtet

Die Bundestagswahl 2017 wirft ihre Schatten voraus, allüberall werden Kandidaten gekürt. So wurde der Platzhirsch im Wahlkreis Konstanz, MdB Andreas Jung (CDU), gerade am letzten Wochenende erneut als Kandidat von seiner Partei bestätigt. Aber wenn man PolitikerInnen wohl zu Recht vorwirft, an ihren Posten zu kleben, verwundert ein Verzicht ohne Not umso mehr. Annette Groth, Bundestagsabgeordnete der LINKEN im Bodensee-Kreis, hat ihren Verzicht mit diesem Brief begründet:

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen,
nach langem Nachdenken habe ich mich entschlossen, nicht mehr für den nächsten Bundestag zu kandidieren. Die Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen, denn Menschenrechte, als ein bedeutendes Schwerpunktthema, liegen mir sehr am Herzen. In Kooperation mit anderen Kolleg*innen im Menschenrechtsausschuss ist es mir doch gelungen, einiges zu bewegen. Wichtige Themen in den letzten sieben Jahren waren für mich die Verbesserung der Situation der Menschenrechtsverteidiger*innen in vielen Staaten der Welt, der Einsatz für die Rechte der Roma in den Staaten Europas und der Kampf für eine humanitäre Migrationspolitik. Mit unserer Forderung an die Adresse international agierender Konzerne, die Menschenrechte einzuhalten, haben wir wichtige Diskussionen angestoßen.

Im Bodenseekreis habe ich mich für eine Verbesserung des Schienenverkehrs eingesetzt. Verkehrspolitik ist auch immer Klimapolitik, weswegen der Ausbau des öffentlichen Verkehrs im Zentrum einer verantwortlichen Verkehrspolitik stehen muss.

Ausdrücklich möchte ich mich bei den Genoss*innen des Wahlkreises für die gute, angenehme Zusammenarbeit bedanken. Das gilt besonders für die konkrete Arbeit mit Geflüchteten, die Zusammenarbeit mit Unterstützer*innenkreisen und den verschiedenen Akteuren vor Ort. Ich habe mit Bewunderung gesehen, wie sich viele Mitglieder und Sympathisant*innen der LINKEN für die geflüchteten Menschen im Bodenseekreis einsetzen.

Seit vielen Jahren befasse ich mich mit den Menschenrechtsverletzungen in Palästina und Israel. Leider spielt dieses Thema im Deutschen Bundestag kaum eine Rolle. Gerade aufgrund der deutschen Geschichte halte ich den Einsatz für die Einhaltung der Menschenrechte im Nahen und Mittleren Osten, aber auch in Israel für immanent wichtig. Es hat mich deshalb auch immer wieder betroffen gemacht, wenn aktiven Menschenrechtspolitiker*innen, die sich für die palästinensischen Menschenrechtsverteidiger*innen und auch für die Rechte israelischer Menschenrechtsverteidiger*innen einsetzen, Antisemitismus vorgeworfen wird. Aufgrund der ständigen „Antisemitismusvorwürfe“ gegen Kritiker*innen der israelischen Politik schweigt die große Mehrheit der Bundestagsabgeordneten zu den Menschenrechtsverletzungen.

Mir machen die zunehmenden Kampagnen gegen Podiumsdiskussionen, Vorträge, Berichte in Fernsehen oder Rundfunk, Ausstellungen und neuerdings auch gegen akademische Seminare, die sich kritisch mit der israelischen Politik und/oder Menschenrechtsverletzungen auseinandersetzen, große Sorgen. Das sind gravierende Angriffe auf die Meinungs- und Pressefreiheit, die zentrale Bestandteile unserer Demokratie sind.

Eine linke Menschenrechtspolitikerin darf zu Unrecht niemals schweigen, ob es in Russland, Iran, Saudi-Arabien, den USA, China oder in Israel/Palästina geschieht. Darüber hinaus sehe ich es als eine Pflicht für alle Linken an, die fortschrittlichen Kräfte und Menschenrechtsverteidiger*innen in Israel und Palästina zu unterstützen.

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen,
ich bin auch der Meinung, dass eine Abgeordnete nicht zu viele Jahre im Deutschen Bundestag sitzen sollte. Ich halte es für wichtig, dass Mandatsträger*innen möglichst eng mit außerparlamentarischen Bewegungen und dem „realen Leben“ verbunden sind und vor allem auch verbunden bleiben. Die Arbeit im Deutschen Bundestag birgt jedoch immer die Gefahr, sich von diesem „realen Leben‘ immer weiter zu entfernen. Auch deshalb werde ich nächstes Jahr nicht mehr zur Wahl für den Deutschen Bundestag antreten. Da ich nächstes Jahr 63 Jahre alt werde und mich schon immer für die Rente mit 63 eingesetzt habe, ist dies auch ein guter Grund, warum ich nicht mehr kandidiere.

Ich war mein ganzes Leben vor meiner Zeit im Bundestag außerparlamentarisch politisch aktiv und freue mich darauf, zusammen mit meinem Mann und politischen Weggefährten dafür wieder mehr Zeit zu haben.

Meinen Wähler*innen und Unterstützer*innen möchte ich für ihr Vertrauen danken. Ich wünsche der LINKEN im Bodenseekreis auch für die Zukunft viel Kraft und Engagement für ihren Einsatz für eine gerechte Gesellschaft.

Mit solidarischen Grüßen
Annette Groth