Kretschmann: Vorbei mit schwäbischer Gemütlichkeit

Er war der „Übervater“, hatte Zustimmungswerte, an die nicht einmal Erwin Teufel oder Lothar Späth herankamen. Das „Ländle“ hatte es gewagt, den ersten Grünen zum Ministerpräsident zu machen. Und das in Baden-Württemberg, nach jahrzehntelanger CDU-Herrschaft. Mittlerweile kann man sich erklären, wie solch ein Phänomen zustande kam. Nein, nicht die Wähler sind sozialer, ökologischer, liberaler geworden. Sie wählten eigentlich das, was sie eben schon immer gewählt haben.

Nur hatten ihre verlässlichen und gleichsam vertrauten Inhalte und Personen jetzt eine andere Farbe. Denn thematisch blieb fast alles beim Alten. Einzig und allein wollte man nicht mehr diese unsympathischen und in Skandale verwickelten Kandidaten der CDU. Gut, dass ein Grüner sich bereit erklärt hatte, die Aufgabe der Wahrung christlich-demokratischer Werte fortzuführen. Zwar unter neuer Bezeichnung – mittlerweile aber sogar „Kiwi“. Allerdings sachlich eher rückschrittig, statt irgendeine Form an Aufbruch.

In der aktuellen Wahlperiode glänzten schon kurze Zeit nach der Vereidigung der grün-schwarzen Koalition die ersten Minister mit der Forderung nach Abschaffung der unter grün-roter Führung beschlossenen Gesetze im Bereich Familien oder auch Wirtschaft mit ihrer Distanz zu allem, was neu gemacht wurde. Nach mehreren Wochen war der erste Paukenschlag laut geworden – Geheimabsprachen der Regierung über Millionen, am Bürger vorbei. Normal sei das, entgegneten beide Koalitionspartner.

Was war geblieben von einem Ministerpräsidenten, der durch seine gemächliche Sprache, sein ruhiges Auftreten und seine stets besonnene Haltung zum Liebling der Nation geworden ist? Anfangs energisch eingetreten für Bürgerbeteiligung und Transparenz, nun konfrontiert mit dem Vorwurf, in den eigenen Reihen am Volk entlang zu regieren. Und in Sachen Schulpolitik, Innenpolitik und Finanzpolitik ganz auf der Linie der CDU, die sich aufspielt, als hätte sie die Wahlen selbst auch noch haushoch gewonnen.

Kretschmann und sein Stellvertreter Strobl verstehen sich offenbar so gut, dass man beide zwischen den Posten – und ihren Parteien – hin und her schieben kann. Der Landesverband von „Bündnis 90/Die Grünen“ stützte ihren Winfried auch aus Gründen der Macht im Bundesrat. Und nicht zuletzt gab es noch konservativere als den Ministerpräsidenten, den Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, beispielsweise, auf den man das Augenmerk und alle Kritik richtete.

Im Bund hielt man sich mit Anfeindungen gegenüber den baden-württembergischen Kollegen zurück, konnte es doch kaum ein besseres Marketing als einen soliden Politiker geben, dem die Menschen lange Zeit vertrauten. Bundesvorsitzender Özdemir setzte sich ebenso für seine Heimat und das Aushängeschild dort ein, auch wenn der Wind von Co-Chefin Peters immer stärker wurde. Denn man ahnte in Berlin offenkundig, dass der immer weiter nach rechts abdriftende Kretschmann zwar in Baden-Württemberg weiterhin große Zustimmung erhalten würde, es der Partei aber auf Bundesebene schwer machen dürfte. Schließlich will ein offenbar „schwarzer“ für eine grüne Bewegung nicht passen – zumal dann nicht, wenn Bundestagswahlen anstehen.

Und so ist der Kragen geplatzt durch einen Auftritt von Kretschmann in der ARD, in der er in für Politiker gänzlich ungewöhnlicher Art und Weise schwelgte. Seine Leidenschaft für die politischen Erfolge der Bundeskanzlerin überbrachte er derart schleimig, dass darauf auch die letzten Befürworter seines grün-schwarzen Kurses auszurutschen vermochten. Eine Anbiederung, wie man sie nicht einmal aus den Reihen der CDU kennt, überkam Kretschmann gegenüber Angela Merkel. Seine Unterstützung für ihre neuerliche Kanzlerschaft war so eklatant, dass kaum jemand versteht, wie ein grüner Politiker noch vor dem Wahlkampf eine solch eindeutige Aussage für den politischen Gegner im Bund tätigen kann. Während das Ringen um eine rot-rot-grüne Koalition in vollem Gange ist, prescht nun der fast verliebt wirkende Kretschmann vor und macht mit seinen Worten den Weg frei: Entweder für ein schwarz-grünes oder ein Bündnis ohne die „Grünen“. Beide Optionen dürften nicht das Wahlziel sein. Und das weiß Winfried Kretschmann. Taktisch ist es nur schwer erklärbar, was sich der Ministerpräsident hierbei denkt. Man kann es höchstens als egozentrische Selbstdarstellung werten, wenn er sich mit seiner Einzelmeinung medial so in Pose rückt.

Die „Grüne Jugend“ reagierte sofort und machte deutlich, dass Kretschmann mit diesem Alleingang nun endgültig über das Ziel hinausgeschossen sei. Wird es jetzt eng für den Politikern mit dem deutlichen Dialekt und der schwäbischen Gemütlichkeit? Zumindest könnte sich die Isolation innerhalb der eigenen Partei verstärken. Kretschmann dürfte allerdings auch keinerlei Ambitionen haben, bei den „Grünen“ noch weiter aufzusteigen. Unklar war bereits, ob er die gesamte Wahlperiode sein Amt ausübt. Entsprechend sollten ihn die Angriffe kalt lassen. Denn immerhin scheinen die Baden-Württemberger durch ihren fast unfehlbar geltenden Landesvater derart in Trance geredet worden zu sein, dass kaum jemand bemerkt, wie das Land abseits vom Koalitionsvertrag regiert wird – sollten die magnetischen Kräfte von rechts weiter zunehmen und die Vereinnahmung des Grünen durch die Christdemokraten auch noch die letzten Reste des Revoluzzers Kretschmann, den er in seiner ersten Amtszeit gab, aufgefressen haben. Für das Land bedeutet dies einen Rückfall in christlich-wertkonservative Angepasstheit, neoliberales Gedankentum und eine Vetterleswirtschaft auf der großen Bühne …

Dennis Riehle