Ein kleines Kultur- und Sittenbild: Dankesrede für einen Preis, den ich nie bekommen habe

jochen-kelterDieser lange Text von Jochen Kelter (Foto) provoziert – den Leser, der sich durch die Zeilen müht, aber mehr noch die Ange­spro­chenen, deren Namen nicht genannt werden, die aber viele Kulturinteressierte in der Region identifizieren können. Kelters Abrechnung mit dem hiesigen Kulturbetrieb dürfte Wellen schlagen und Gegenwehr provozieren, könnte aber auch eine Diskussion lostreten – über verstaubte Literatur-Ansichten und vergilbte Vorurteile. Wenn sich die Gescholtenen denn trauen …

Geschätzte, Verehrte, meine Damen und Herren;

Sie gestatten mir, dass ich zu meinem Thema, dem Literaturpreis, den ich in beinahe schon grauer Vorzeit gerne bekommen hätte, aber nie erhalten habe, ein wenig ausgreife, nämlich in die Vergangenheit des letztes Jahrhunderts. Es war an einem strahlenden und warmen Sommertag, dem 23. Juli 1981 (das ist nachweislich verbürgt), als meine Freunde oder besser, derjenige der beiden, der mir verblieben ist, in der Stadt auf der anderen Seite des Sees, seinem Nordufer im Kursaal beim Park an der Seepromenade, den wichtigsten, weil auch beinahe einzigen Literaturpreis der Region überreicht bekamen. Er war erstmals auf 5000 Deutsche Mark pro Autor aufgestockt worden und wurde mit Musik und einer Laudatio des Tübinger Kulturwissenschaftlers Hermann Bausinger garniert.

Vorfeierlichkeiten mit launigen Reden und literarischen Fingerübungen waren bereits am Abend zuvor über die Bühne eines geschlossenen Zirkels gegangen. Im Anschluss an die Preisverleihung waren die Honoratioren, die Laudatoren und die Geehrten zu einer Festtafel ins Bad-Hotel geladen. Das Fußvolk, also auch ich, blieb draußen und durfte die sonnige Seelandschaft in ihrem schönsten Sonntagsstaat genießen. Aus irgendeinem mir nicht bewussten Grund ist der glänzend warme Sommertag, dessen Vor- und Folgetage ich nicht mehr weiß, in meinem Gedächtnis nicht versunken, sondern haften geblieben. Vielleicht kulminierte ein wiedergefundenes Leben in diesem hohen, hellen Tag, ein allmählich wiederentdecktes Selbstwertgefühl, eine neue Identität von politisch sozialer Überzeugung, literarischer Aspiration, die vor noch nicht allzu langer Zeit zu keimen begonnen hatte, und alltäglicher Privatheit.

Erfahrungen mit Berufsverbot

Vier Jahre zuvor, also während der „bleiernen Jahre“, hatte ich eine Anthologie mit politischen Texten und zur Befindlichkeit meiner Generation veröffentlicht, vor drei Jahren meinen ersten Gedichtband in einem kleinen Zürcher Verlag und durch die Förderung der Herausgeber einer aufwendig produzierten Zeitschrift für Literatur und bildende Kunst, wie es sie heute nicht mehr gibt. Vielleicht wurde mir an diesem Sonntagmorgen die neuerliche Übereinstimmung von Fühlen und Wollen bewusst nach der Zerrissenheit der in Agonie, Sektierertum und persönlicher Misere zerfallenen Studenten- und Jugendbewegung der späten sechziger und frühen siebziger Jahre. Im Rückblick waren es quälend langsame Jahre gewesen, und auf einmal setzten sich Gegenwart und Zukunft in schnelle Bewegung. Wir setzten uns in Bewegung, ohne zu genau zu wissen, wohin sie uns führen würde. Da war wieder die alltägliche Lebenssituation mit in Aussicht genommener Zukunftsperspektive und sozialem Leben zur Deckung gekommen. Vielleicht sogar auf Zeit mit intimen Beziehungen. Liebesbeziehungen sind ja den meisten meiner Generation stets nur auf Zeit, mit Schmerzen oder durch Kompromisse, nie aber durch unbedingten Vorsatz und absolutes Vertrauen in die Vorbestimmung einer Zweisamkeit gelungen.

Drei oder vier Jahre zuvor war ich dem ehemals süddeutschen, nun baden-württembergischen Schriftstellerverband beigetreten, einem strukturkonservativen Verein unter wohlwollend patriarchalischer Führung, obschon ich mich nach den Erfahrungen meiner Jahre mit Berufsverbot im öffentlichen Dienst nie wieder einer Gewerkschaft hatte anschließen wollen. Ich lebte ja auch bereits seit über zehn Jahren in der Schweiz, habe die Rückkehr nach Deutschland nie erwogen, hatte Brotverdienst gefunden und fühlte mich also, so absonderlich das für jemanden ohne die gleiche Erfahrung von Ächtung und Existenzbedrohung klingen mag, vor den Reichsgöttern in Sicherheit.

„Literatur im alemannischen Raum“

Die Verbandsoberen in Stuttgart, die gespürt haben mögen, dass wir etwas bewegen wollten, ließen uns Jüngere gerne machen. Wir machten eine Literaturzeitschrift, für die junge Literatur wurde ein Verlag gegründet, der nach wenigen Jahren an mangelndem Professionalismus scheiterte und vielen von uns Schulden hinterließ. Wir organisierten einen Kongress am See, der schon lange nicht mehr existierenden Wiege der Region zu „Literatur im alemannischen Raum“, der ungeheuren Zuspruch fand. Die Überschreitung nationaler Grenzen vom Elsass nach Baden bis nach Bern und Vorarlberg gefiel mir, dem politisch literarischen Konzept des Regionalismus, des Kampfs der Provinz gegen die Strukturgewalt der Metropolen, der Bindung der Literatur an ein Stück Heimat, einer Region habe ich dagegen zutiefst misstraut.

Ich wollte meine Arbeit machen, die nun begrenzt und nicht mehr angelegt war auf die Umwälzung der politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse in ihr Gegenteil. Ich unterrichtete, ich schrieb, ich führte ein soziales Leben und versuchte, ein privates zu führen. Nach und nach begann ich, mich für unseren „Stand“ zu engagieren, für Literatur, Kunst und Kultur und jene, die künstlerischen Berufen nachgingen. Für die Rechte der Urheber von Werken der Imagination, stellvertretend für die Menschenrechte, wie ich diesen Einsatz gegen Nutzer und Verwerter dieser Werke, denen Urheber nur lästig sind, noch heute verstehe. So hat es sich ergeben, dass ich viele Jahre in nationalen und internationalen Verbänden, Gesellschaften und NGOs gearbeitet habe.

An jenem fernen Sonntag war ich nur einfach bei mir. Literaturpreisen galt nicht mein dringendes Interesse. Dass zwei von uns diesen Preis bekommen hatten, war schön und bestärkte mich in meiner Sicherheit und Zuversicht. Eines Tages würde ich ihn ebenfalls bekommen. Das Leben aber hatte eine Richtung, und die lief nicht auf Literaturpreise zu. Dass ich von jedweder Nominierung zum Kandidaten für den Literatur-Nobelpreis Lichtjahre entfernt bin, versetzt mich, Verehrte, Geschätzte, in die unbeschwerte Lage, dem jährlich zur Zeit der Frankfurter Buchmesse sich wiederholenden Spektakel der Verkündigung des oder der Auserwählten mit halbem Ohr und einem Auge beizuwohnen.

Preiswürdig ist jemand, der bereits einen Preis gewonnen hat

Der Nobel-Preis für Literatur, der seit dem Jahr 1901 verliehen wird, ist so etwas wie der Oscar für den Film, die Emmys für die Fernsehszene oder die Grammys für die Pop-Musik: die prestigeträchtigste E-Version einer U-Branche, die solche Preisverleihungen zur Steigerung von Glamour und also von Absatz veranstaltet. Dem Nobelpreis muss man sich von zarter Jugend an entgegenschreiben und dabei auch von vornherein die richtige Gattung wählen, nämlich den bitte nicht zu dünnen und nicht zu dicken Roman und in der Folge einen Stapel solcher Romane anhäufen. Und man sollte sich zuvor am besten auch die renommierten nationalen Preise oder die eines Sprachraums erschrieben haben, den Booker-Preis im englischen Sprachraum, den Büchner- Preis in Deutschland, der Schweiz und Österreich, den Prix Goncourt für die frankophone Welt, den Premio Strega in Italien oder den Cervantes-Preis für die spanischsprachige Hemisphäre.

Denn auch für Literaturpreise gilt: Preiswürdig ist jemand, der bereits einen Preis gewonnen hat, den Kleist-Preis bekommt, wer schon etliche andere eingeheimst hat. Denn nicht nur der oder die mit dem Preis Geehrte, vielmehr auch die verleihenden Institutionen, Akademien und Städte wollen in glänzendem Licht erscheinen. Das wird gerne und häufig übersehen: Nicht allein der Preisträger wird geehrt, sondern auch diejenigen, die den Preis ausloben ehren sich in gleichem Maße selber.

Der Literatur-Nobelpreis mit seiner Verleihung durch den schwedischen König mag da ein wenig drüber stehen. Er ist neben dem Hans Christian Andersen-Preis für Kinder- und Jugendliteratur der einzige weltweit bekannte Preis, der nicht an eine Sprache oder Kultur gebunden ist. Gleichwohl oder vielleicht gerade deshalb fördert er immer wieder unerwartete Preisträger – ich denke an den französischen Romancier J.M.G. Le Clézio (2008), auf den selbst in Frankreich niemand gewettet hätte – und fragwürdige, zumindest aber hinterfragbare Entscheidungen zutage.

Fragwürdige Nobel-Preis-Entscheidungen

Wir haben in der Schweiz Jahr für Jahr brav die Namen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt in die Nominierungslisten der schwedischen Akademien eingetragen, die uns zugeschickt wurden. Geholfen hat’s, wen wundert’s, nichts. Die Verleihung des Nobelpreises wird nicht nach demokratischen Spielregeln vollzogen, sie obliegt richtigerweise einem Gremium von mehr oder minder Weisen. Da spielen dann politische Faktoren (Winston Churchill, 1953) geopolitische, kulturgeographische, modische, eurozentrische Gründe oder ihr Gegenteil eine Rolle. Und natürlich wird hinter den Kulissen eifrig gerungen, gefeilscht und eingeflüstert.

Rein literarisch fragwürdig erscheinen mir beispielsweise die Nobelpreise für Hermann Hesse (1946) oder Dario Fo (1997). Auffällig ist die Häufung von Nobel-Ehren für deutschsprachige Autorinnen und Autoren in jüngerer Vergangenheit. Auf Heinrich Böll (der Nobelpreis von 1972 hing eindeutig auch mit Willy Brandts Ostpolitik zusammen) folgten Günter Grass (1999), Elfriede Jelinek (2004) und Herta Müller (2009). Von den preisverdächtigen, weil immer wieder genannten Granden der deutschen Literatur fehlen da eigentlich nur Martin Walser und mit Abstrichen Siegfried Lenz. Hinter Elfriede Jelinek und Herta Müller lassen sich aus meiner Sicht ebenfalls Fragezeichen setzen.

Und wenn auch nur die Hälfte von dem zutrifft, was „Der Spiegel“ seinerzeit an Hintergrundinformationen über die Vorgeschichte der Preisverleihung an die letztgenannte zusammengetragen hat, dann muss in diversen Netzwerken, in unterschiedlichen Funktionen, auf verschiedenen Positionen und auf allen möglichen Ebenen eine wahrhaftige Kamarilla am Werk gewesen sein, um am Schluss ihrer Kandidatin den Preis zu sichern. Wir haben es geschafft!, soll da einer am Schluss gejubelt haben. In anderen Worten: Auch beim Literatur-Nobelpreis dürfte der Schein das knallharte Business mit dem Mäntelchen des schönen Geists zudecken. Ein Wort noch zu den Moden. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung begründet die Verleihung des Büchner-Preises 2016 an den Romancier und Lyriker Marcel Beyer unter anderen wohlklingenden Sätzen („Seine Texte sind kühn und zart“) mit dem hier: „Er hat den Sound der Straße im Ohr, er kennt die Testgelände der ästhetischen Avantgarden“. Und zwar so sehr, dass er sie nur noch alleine hoch- und wieder hinunter braust.

Opportunismus der deutschsprachigen Literaturkritik

Das zeigt den ganzen Opportunismus der deutschsprachigen Literaturkritik. Nach neuer Subjektivität, Parlando-Gedicht und neuer Innerlichkeit hat nun der Dekonstruktivismus endlich auch das Gedicht erreicht. Und Beyer ist sein radikalster, unerreichter Meister. Niemand möge mir weismachen, er verstehe den 200 Seiten starken Gedichtband „Graphit“ (2015), könne seine Verse intellektuell nachvollziehen, geschweige ästhetisch genießen. Sie sind voller intraliterarischer Anspielungen und Querverweise, denen man ohne Anleitung gar nicht folgen kann, Vivisektionen – aber an was? Einer radikal subjektiv erfassten Wirklichkeit bestenfalls. Aber das ist gleichgültig. Hauptsache, man ist auf dem Kamm der Welle dabei, bevor sie im nächsten Wellental verschwindet.

Im Jahr 1982 erhielt ich den „Literaturförderpreis New York“ zugesprochen, der von verschiedenen deutschen Großstädten vergeben wurde und mit dem ich mich zwischen sechs und acht Monaten in einem Gast-Appartement der New York University aufhalten durfte, aber auch musste. Das war mit mit einem Aufenthaltsgeld von insgesamt 3000 Dollar nicht einfach. Ich musste ja meine Miete daheim und meine Steuern auch weiterhin bezahlen. Ein Preis, den man sich leisten können musste.

Ich schrieb also aus New York weiter meine Beiträge für den Süddeutschen Rundfunk (SDR), die im Diplomatengepäck über den Atlantik reisten, sowie für einige Zeitungen. Nach meiner Rückkehr stellte ich eine längere Erzählung über „Die steinerne Insel“ fertig. Ohne den Preis wäre ich mit den USA und ihrer Kultur vielleicht niemals in physische, mentale, soziale und lange nachwirkende Berührung gekommen, ohne die niemals ein wirkliches Eintauchen in eine andere Lebenswelt jenseits von Sightseeing-Tourismus zustande kommt. Kurz vor der Vorstellung meines Buchs in St. Gallen glaubte die Neue Zürcher Zeitung nach Hinweis des deutschen Generalkonsulats auf seine USA-feindlichen Tendenzen hinweisen zu müssen.

Ein paar Preise

In Deutschland regierten die Sozialdemokraten mit der seinerzeit noch linksliberalen FDP. Ich hatte ihre Vertreter im Deutschen Haus der New Yorker Universität erlebt. Politiker gönnten sich nach zwei Tagen voller Termine gerne einen Abstecher nach New York an den Broadway oder zu einem Cocktail-Empfang und sonderten als Gegenleistung vor ein paar Studenten und Dozenten ihr Bild der USA ab. Das bestand, wie mir nach drei Monaten Aufenthalt bald klar wurde, aus lauter Klischees, Stereotypen und daheim vorgefertigten Meinungen. Mein Zürcher Verlag war um Besänftigung bemüht. Welche Farce. Das konservative St. Galler Stadtpräsidialamt gab Entwarnung. Auch an Polizeikräften gab es nur zwei, die die Besucher am Eingang kontrollierten. Der Generalkonsul aus Zürich erschien so wenig wie mein Verleger zur Lesung.

1984 bekam ich den Literaturpreis der Stadt Stuttgart. Der war weit besser dotiert. Aber ich musste ihn mit Freund Otto Jägersberg teilen, was mir nicht schwerfiel. Nach der Preisverleihung im Ratssaal des Rathauses wurde ein Foto von uns beiden gemacht, unter das Otto schrieb: Würden Sie von diesen beiden Herren einen Gebrauchtwagen kaufen? Ein paar Autoren, zu denen Otto zählt, pflegen einen Sprachgestus, der sich nicht wesentlich von dem ihrer Literatur unterscheidet.

Drei Jahre später, 1987, schon wieder ein Preis: der Thurgauer Kulturpreis, also der Preis meines Heimatkantons. Dessen Barwert von 20 000 Franken musste ich, abzüglich der 2000 Franken für die anschließende Bewirtung der Thurgauer Regierung, der Preisträger, die sich also sozusagen selber einluden, und der Laudatoren mit zwei älteren Herren teilen, einem Chorleiter, wenn ich mich recht erinnere, sowie einem Historiker und Raumplaner. Item, es war zu jener Zeit kein reines Vergnügen, Preisträger zu sein.

Die Berichterstatterin der Thurgauer Zeitung, einer der Feministinnen der Epoche, die im Stehen urinierende Männer zur Schande der Menschheit erklärten, schrieb nicht etwa: Erster Ausländer erhält Kulturpreis des Kantons, sondern: schon wieder keine Frau. Dem Finanzvorstand meiner Wohngemeinde, der ebenfalls zur Feier angereist und auf meine Kosten verköstigt worden war, erklärte ich noch am selben Abend, keinesfalls würde ich mein Preisgeld, das ja öffentliches, also versteuertes Geld sei, nochmals versteuern. Das zumindest habe ich durchgestanden und bin dafür nie belangt worden.

Nur noch Lifestyle und Lebenshilfe auf den Kulturseiten

Danach aber war Schluss mit Preisen für mindestens die nächsten 25 Jahre. Die Preisverteiler und Preisempfänger haben mich ganz schnell vergessen und nie vermisst. Die Literaturpreise und ihre Dotierungen hingegen haben sich seither rasend vermehrt und vervielfacht wie die mittelmäßigen Fußballklubs und ihre Spielergehälter. Jede Gegend ist Krimi-Gegend, jedes Kaff hat seine Krimi- Woche, jede Stadt, die etwas auf sich hält, ihren Preis für Poetryslam oder den jüngsten Shooting Star, der nach einer Saison verglüht. Hauptsache, das Image stimmt, die Sponsoren sind zufrieden und die Stadtväter sonnen sich im eigenen Glanz. Die U-Branche hat voll auf die E-Branche durchgeschlagen. Die Kulturseiten der Zeitungen, die früher einmal über Bühne, Literatur und Kunst berichteten, bieten heute neben Veganrezepten Lifestyle und Lebenshilfe. Der eigentliche Kulturteil ist geschrumpft und verroht. Jüngere Zeitgenossen wissen kaum noch, dass Musik und Literatur mehr zu bieten haben als Lady Gaga und „Fifty Shades of Grey“.

Wohlwollende, vielleicht aber auch gar nicht so wohlwollende Zeitgenossen, die mit dem zu Anfang erwähntem Preis als Journalisten, Juroren, Preisträger, Stichwortgeber oder auch nur als Beobachter der Literaturpreisszene in irgendeiner Weise in Verbindung standen, versicherten mir mit der Zeit immer häufiger, es könne nicht mehr lange dauern, bis auch ich ihn verdientermaßen erhielte. Kurzfristig könne ich mich damit trösten, dass der Lyriker Georg Friedrich Jünger, der jüngere, unbescholtene der beiden Brüder, ihn auch erst in fortgeschrittenem Alter verliehen bekam. Aber das war 1955, bei der erst zweiten Ausrichtung, Jünger, ein in den Anfängen des Jahrhunderts verwurzelter Autor, war 57 Jahre alt. Ich habe ihn altersmäßig längst hinter mir gelassen.

Ich wollte ihn ja gar nicht, hatte ihn, dessen Verleihung ja wirklich nicht den Höhepunkt eines Autorenlebens bildet, eigentlich schon vergessen. Aber diese Aufmunterungen nervten. Der vermeintliche Zuspruch begann, an mir zu nagen. Die Jahre vergingen, und ich erlebte, vielmehr ich las in der Zeitung, wie Kollegen und Kolleginnen, jüngere und ältere, denen ich ihn gönnte, von denen ich einige durchaus schätzte, an mir, der ich doch angeblich in der Pole-Position stand, vorbeizogen und ihn zugesprochen bekamen. Auch solche, die sich weit weniger lange in der näheren oder weiteren Region aufhielten. Mancher und manche schien, kaum war er oder sie am Himmel der Literatur und der Gegend aufgetaucht, förmlich mit diesem Preis zusammen zu stoßen.

Gedichte haben es schwer

Ich begann, mir gegen meinen Vorsatz und zum Nachteil eines heiteren Seelenfriedens Gedanken über Gründe, Hintergründe und Abgründe dieser offensichtlichen Diskrepanz zwischen Verheißung und nackter Wirklichkeit zu machen. Wenn fünf der sieben aktuellen Juroren mir versicherten, mit meinem Namen sei in dem Gremium in Bälde zu rechnen und auf ihre Gewogenheit könne ich zählen, musste auf Dauer etwas faul sein, oberfaul sogar. Gedichte haben es eben schwer, beschwichtigte mich noch im vergangenen Winter ein Juror, Gymnasialprofessor und Autor eines Standardwerks über moderne Lyrik, nach einer Lesung in der Schweiz. Georg Friedrich Jünger 1955, Werner Dürrson 1985. Dann wäre es doch an der Zeit, und ich habe ja nicht nur Gedichte verfasst, auch wenn manchen Juroren meine Prosastücke zu Alemannien auf beiden Seiten der Grenze nicht geschmeckt haben mögen. Alles Quatsch. Dummes Zeug.

Diese Einsicht hat mir meine zeitweise angefressene Seelenruhe zurückgegeben. Wenn jemand einen seiner Sympathie und Gewogenheit versichert, darf man gewiss sein, dass ich diesem Jemand den Rücken freihalten will. Für klügere Einsichten, für neue Aspekte. Um, wozu schon Voltaire riet, ihren Garten zu kultivieren. Und in ihre Gärtlein bin ich ihnen halt immer wieder hineingetrampelt. Sie wollen die Zeitlosigkeit des Binnenreims, die Begrenztheit des Endreims abklopfen, sich mit jovialer Geste um Nachwuchsautoren im Landkreis, mithin in Sichtweite kümmern, um regionalgeschichtliche Schätze, die es dringend zu heben gilt. Um die jüdischen Landwirte rund um den See in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Nicht um die entfesselte, deregulierte neue Weltordnung mit ihren Kriegen, ihrem Elend und den Flüchtlingsströmen, die sie sogar bis hierher in das kleinräumige Paradies gebombt hat und auch ihre Gärtlein bedroht. Man sieht nicht, was man nicht sehen will. Sie wollen partout nicht sehen, wie der rasende Landfraß, die seelenlose Zersiedlung, die erschreckend hässliche Überbauung den einstigen Garten Eden, seine Dörfer und Städtchen zu Agglomeration, zu „Agglo“, zu absurden Siedeleien verwüstet. Zumal auf dem Südufer des Sees, in der ökonomisch potenteren Schweiz. Das ist zwar dann Ausland, aber die Region macht nicht an der Grenze halt.

Und der Konsumismus, die permanente hirnlose Partymeile mit Oktoberfesten, Weihnachtsmärkten und Public Viewing, mit nervtötendem Krach und Sauferei tobt sich vor allem bei ihnen aus. Einer wie ich ist kein Werbeträger für eine Region, die von Touristen lebt, für eine Kur- und Gästestadt. Werner Dürrsons Gedichtband „Kattenhorner Schweigen“ aus dem Jahr 1984, für den unter anderen er 1985 den Preis bekam, als Ausdruck kritisch intellektueller Literatur ist heutzutage schon lange kein Standortvorteil mehr.

Der bestens vernetzte Kulturredakteur

Und dann gibt es noch wie überall, wo Menschen der gleichen Branche, in diesem Fall der Kultur, seit Jahrzehnten miteinander in wenn auch nur losem Kontakt stehen, die berüchtigten, selten geborgenen Leichen im Keller. Da gibt es den bestens vernetzten und hoch verschwippten Kulturredakteur und Juror, der das literarische Jahresheft, bei dem ich als Herausgeber mittue, grottenschlecht, überflüssig findet („so etwas brauchen wir hier nicht“), vor allem anderen seinen regionalen literarischen Göttern, dem Walser-Clan, huldigt und mich sowieso für zu links gestrickt hält. Ja, ich kann schon was. Aber ich störe die Ordnung mit meiner Miesepeterei. Er heuert einen gnadenlos schlechten Lyriker an, dessen letzte Publikation ich (auf seinen Wunsch) negativ besprochen hatte, in der Hoffnung, der werde meinen Gedichtband verreißen. Was nicht ganz klappt, aber seinen Niederschlag doch in einer schlechten Rezension findet.

Da ist der Regionalhistoriker und Juror, der den Preis dank einer offenbar sehr freundlichen Auslegeordnung schon zweimal erhalten hat. Er mischt sich nicht ein, sondern kümmert sich lieber um die regionalen Literatur- und Kulturkrümel des verblichenen sowie vorvergangenen Jahrhunderts – einer aus regionaler Sicht selbstverständlich verdienstvollen Forschungstätigkeit.

Und schließlich ist da noch der Juror und Gemeinderat, Fraktionsführer einer bröckelnden Minderheitenpartei, kultureller Wortführer in der den Preis auslobenden Stadt am See, der mir nach vier Jahrzehnten auf einmal in einem Brief vorwirft, ich hätte über das gegen mich im Jahr 1974 verhängte Berufsverbot im öffentlichen Dienst, sprich an der Universität, nicht die volle Wahrheit gesagt. Den auch der Recherchebericht eines Journalisten in der größten Zeitung der Landeshauptstadt Stuttgart aus dem vergangenen Jahr, der als bisher einziger Zugang zu meiner (im Gegensatz zu der des grünen Ministerpräsidenten, mit der er sie verglichen hat) offenbar kurzen Akte hatte, nicht umstimmen kann. Er schweigt. Ja, und ich habe ja auch die „Seite“ gewechselt, die Nationalität. Und was von solchen unsicheren Kantonisten zu halten ist, wusste man in Deutschland schon immer.

Meine Damen und Herren, verehrte Geschätzte,

die Sie meine Dankrede für einen Preis, den ich nie bekommen habe, nicht hören können, weil ich sie niemals gehalten habe, nehmen wir es zur Kenntnis: Literaturpreise, private wie öffentliche, werden zum Wohl und Ansehen ihrer Ausrichter an Personen vergeben, die Renommee und Standortvorteil der namengebenden Stadt, Region oder Stiftung zu stärken oder zu bewahren vermögen, an Schriftsteller, die ansonsten vorzugsweise nicht auffällig werden, durch dezidierte Überzeugungen abseits des Mainstreams etwa.

Vorbei die Zeiten, in denen der Stuttgarter Oberbürgermeister Rommel der Jury des Stuttgarter Literaturpreises nach langer Findungsdebatte sagte: „Finden Sie endlich jemanden mit Substanz, keinen Telegenen.“ Ein Autor entwirft das Bild einer Epoche, der seinen oder einer früheren. Er wirft ein Schlaglicht auf eine exemplarische persönliche, soziale oder historische Lebenssituation einer oder mehrerer Figuren, die der Leser der seinen beiordnen oder gegenüberstellen kann. Er erfindet das Leben künstlich noch einmal, diesmal aber nachvollziehbar, um zu dechiffrieren. Er wirft im Gedicht ein Blitzlicht auf das stets Schwankende und Prekäre der menschlichen Existenz zwischen ungefährem Anfang und unsicherem Ende. Ein Licht in beinahe lauter Dunkelheit. Ein Hoffnungslicht auch noch im negativen Abbild von Solidarität, Brüderlichkeit und Glück.

Dafür, Verehrte, steht die Literatur. Nicht für wohlfeile Nachbildung publikumswirksamer Folien oder überflüssiger metatheoretischer Gehirnschwurbeleien und nicht für den Punktekampf um Literaturpreise. Das sollte wieder einmal gesagt sein.

Dem jüngsten Preisträger, dem Lyriker Peter Salomon, der den Bodensee-Literaturpreis 2016 entgegen genommen hat, habe ich gratuliert, weil ich ihn seit Jahrzehnten kenne und schätze. Seinen Gedichten, die in der Subjektivität des Parlando-Gedichts und der sympathischen Schnodderigkeit der siebziger Jahre gründen, habe ich mich hingegen entfremdet.

Bekäme ich wider Erwarten eines Tages und dann in wirklich hohem Alter den Preis doch noch verliehen, ich würde seine Entgegennahme wohl ablehnen. Das wäre ich mir schuldig. Es sei denn, ich könnte just gerade dann fünftausend Euro gut gebrauchen. Was ich mir lieber gar nicht erst vorstellen mag.

Jochen Kelter