Krank im kranken Krankenhaus: Ein Erlebnisbericht
Wie sich der „Pflegenotstand“ auf PatientInnen auswirkt, was der Stress in der Klinik mit den Beschäftigten macht und warum der Kostendruck unser Gesundheitswesen ruiniert – alles das hat unsere Autorin am eigenen Leib erlebt. Dabei ging es nur um die Folgen eines Fahrradunfalls.
„Randale in der Notfallstation“ oder „dünne Personaldecke“ heißen heutzutage die Schlagzeilen, wenn es um Missstände im Gesundheitswesen geht. Dieser Erlebnisbericht ist keine kritische Analyse solcher Probleme im Konstanzer Klinikum. Er hätte zwar als E-Mail im Briefkasten des neu eingerichteten „Beschwerdemanagements“ des Klinikums Konstanz laden können, ich möchte jedoch ein Fazit lieber dem Leser überlassen.
Alles begann damit, dass ich an einem Freitag zu einer Fahrradtour aufbrach und mich unversehens im Konstanzer Krankenhaus wiederfand: Zwei vergnügt am Straßenrand spielende Mädchen in der Poststrasse von Tägerwilen, die plötzlich beschließen, über die Straße zu rennen. Mein radelnder Vordermann versperrt ihnen und mir die Sicht. Mein Bremsmanöver fällt jämmerlich aus, ich stürze. Als ich mich aufgerappelt habe, ist schnell klar, dass ich ein Fall für die Notaufnahme im Krankenhaus bin. Ein Taxi ist bald gerufen. Im Notaufnahmebericht heißt es „eingetroffen um 16.15 Uhr zu Fuß“.
An meine zahlreichen wartenden Leidensgenossen kann ich mich kaum erinnern. Nur ein Mädchen, dessen Pferd sich auf ihren Fuß gestellt hatte, und das besorgt und fast ein bisschen wehleidig auf ihren anschwellenden nackten großen Zeh starrte, sitzt immer noch in meinem Hinterkopf. Für uns beide hätte ich mir jemanden gewünscht, der regelmäßig mit einem Bauchladen voller Eisbeutel die Reihen der Wartenden abschreitet. Meine Hand war während der Wartezeit auf Eutergröße, allerdings mit fünf Zitzen, angeschwollen.
Schmerzmittel mit Verzögerung
Als mein Partner, der die Fahrräder nach Hause gebracht hatte, im Wartebereich der Notaufnahme ankam, wagte ich endlich den Gang aufs Klo, wo ich feststellte, dass mein Notverband verrutscht war und eine beeindruckende Blutspur meinen Gang auf die Toilette nachzeichnete. Angesichts der blutigen Sauerei mischte sich mein Partner in den Chor der Schimpfenden, die – wenigstens notdürftig – versorgt werden wollten. Das wirkte. Ich wurde hinter die Glastür gerufen, nach meinem Krankenkassenausweis gefragt und stellvertretend für meinen ungeduldigen Partner barsch darauf hingewiesen, dass man unglücklicherweise an diesem Freitag extrem viel zu tun hätte.
Trinken durfte ich nichts mehr, obwohl ich erst zu dem Zeitpunkt – es war inzwischen ca. 19 Uhr – merkte, dass ich rasenden Durst hatte. Man müsse mich möglicherweise operieren. Endlich erhielt ich ein Schmerzmittel. Dann stolperte ich hinauf zum Röntgen, wo ich schnell herausfand, dass man sich ruhig in die Wartereihe einordnen konnte. Ein müde aussehender Röntgenarzt, der bei Bedarf auch noch das MRT-Gerät im Nebenzimmer bediente, kam heraus auf den Gang, wenn immer er für ein neues Opfer Zeit hatte.
Unten in der Notaufnahme musste ich wieder auf dem Behandlungstisch Platz nehmen. In meinem Schmerzmitteltran und aus der Warte meiner 65 Lebensjahre sah ich, wie eine „Abiturientin“ unter der Aufsicht einer nicht viel älteren Ärztin eine tiefe Schnittwunde neben meinem linken Schienbein nähte: Beim Sturz war ich unter das Kettenblatt des Fahrrades geraten. Dann wurden die Röntgenaufnahmen studiert. Ich hörte die Diagnose Radiusfraktur und erfuhr dann am eigenen Leib, wie man verschobene Brüche zu richten versucht. Das gelang nicht. Der Arm wurde eingegipst und ich konnte endlich nach Hause. Am Sonntag würde die Chirurgin eine Sonderschicht einlegen. Ich sollte Sonntag morgen um 8 Uhr nüchtern wieder im Krankenhaus erscheinen.
Die Pflegerin war blitzartig verschwunden
Wie immer war ich pünktlich und hatte – brav, wie ich nun mal bin – seit Samstagabend nichts mehr gegessen und getrunken. Ich versorgte zügig meine Zahnbürste und die Kleider und schlüpfte in mein Krankenhausnachthemd, das mir meine neue Zimmernachbarin zuband. Mit dem Gips am Arm konnte ich das nicht und die Pflegerin war blitzartig verschwunden.
Ich habe an diesem Sonntag meine Zimmernachbarin und deren Bandscheibenprobleme gut kennengelernt: Eisenbahnerwitwe, ursprünglich aus dem Montenegro. Auch einer der Söhne kam mit dem Enkelkind nachmittags zu Besuch. Schließlich waren wir zu dritt im Zimmer. Der Neuzugang hätte ein Klon meiner Mutter sein können. Zähneknirschend beobachtete ich, wie sie ihre Töchter auf zahlreiche Botengänge schickte und auch die Pfleger mit dem Notrufknopf herumscheuchte.
Irgendwann beschloss ich kurz vor 17 Uhr, hungrig und wutschnaubend spätestens zur Tagesschau wieder zu Hause zu sein und mich erst unter Angabe eines ganz konkreten Termins wieder ins Krankenhaus locken zu lassen. Kaum hatte ich diesen Beschluss gefasst, kam die Schwester, die mich und mein Bett in den Operationssaal schob. Es gab eine Spezialnarkose, die dafür sorgte, dass nach der gelungenen Operation mein gefühlloser Arm wie ein Kartoffelsack auf meinem Bauch lag. Die Operation war schnell vorbei. Ich erinnere mich an bohrende Heimwerkergeräusche und die Befehle „Jetzt eine 16er Schraube“ und ähnliches.
In der Nacht war ich kurz ziemlich in der Klemme, denn die Narkose ging und die Schmerzen kamen. Der rechte Arm war nicht zu gebrauchen und der linke hing am Tropf und so konnte ich nur unter akrobatischen Verrenkungen den Notrufknopf erreichen, um die Nachtschwester zu rufen. Ich nehme ihr immer noch übel, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben den roten Knopf drücken musste. Die Schmerztabletten hätte sie mir auch gleich abends auf den Nachttisch stellen können.
Am nächsten Tag war ich wieder zu Hause und gegen Ende der Woche hat die mit der Nachsorge befasste Orthopädin, die wohl am Erfolg der im Krankenhausbrief empfohlenen „konservativen Behandlung“ der ebenfalls abgerissenen Trizepssehne zweifelte, mich an das Krankenhaus zurück überwiesen.
Bürokratie im Behandlungszimmer
Zwölf Tage nach dem Unfall wurde ich erneut operiert, jetzt als ordentlich angemeldete Patientin mit mehrfach angelegter Patientenakte: Einmal sah ich meinen Interview-Partner eine Excel-Tabelle ausfüllen, im Nachbarzimmer stellte mein Gesprächspartner die gleichen Fragen, um meine Akte digital zu erfassen und im nächsten Zimmer kritzelte ein stark erkälteter Arzt („Warum bleibt der nicht zu Hause statt andere anzustecken?“) noch einmal meine Antworten mit dem Kuli auf einen Vordruck.
Als ich jetzt mein Zimmer im Krankenhaus bezog, war ich misstrauisch. Ich hatte zwar nicht gefrühstückt, aber ich hatte vorausschauend einen großen Teebecher geleert. Zu recht, denn die Operation erfolgte am Nachmittag. Als ich aus der Vollnarkose aufwachte, war Abendbrotzeit. Leider musste ich die zweite Hälfte meines Käsebrötchens stehen lassen, weil mir schlecht wurde. Was ich zwei Stunden später hungrig bedauerte, aber da hatte man mein Tablett schon weggeräumt. Mit knurrendem Magen musste ich am nächsten Morgen feststellen, dass sich wohl die Krankenhausroutine geändert hatte: Kein energisches Aufreißen der Tür um 6 Uhr, gefolgt vom Einsatz von Thermometer und Blutdruckmessgerät. Bis 8 Uhr horchten meine neue Zimmernachbarin und ich vergeblich auf Geräusche auf dem Gang, dann rauschten zwei böse Damen ins Zimmer und knallten uns Tabletts auf die Ablage am Nachttisch. Es habe krankheitsbedingte Ausfälle gegeben, hieß es erklärend.
Hatte der stark erkältete Arzt in der Anmeldung auch in der chirurgischen Abteilung alle Mitarbeiter angesteckt? Mit diplomatischem Geschick sorgte meine Zimmernachbarin, die ebenfalls nur die linke Hand gebrauchen konnte, für aufgeschnittene und belegte Brötchen. Meine Fastenrekord von 36 Stunden, nur unterbrochen durch ein halbes Käsebrötchen, war an dem Morgen erreicht.
Halbnackt durch die Gänge
Das Eintauchen in den Krankenhausalltag begann damit, dass plötzlich ein junger Mann mit einem Rollstuhl ins Zimmer kam, der meine Leidensgenossin zum Röntgen bringen sollte. Ihr hatte man über das Krankenhausnachthemd ein merkwürdiges Stützgestell, das die operierte Schulter entlasten sollte, geschnallt. Die rechte Brust lag frei und der Rücken sowieso. Ich protestierte. Halbnackt könne man die Frau doch nicht durch die Gänge fahren, wo sich halb Konstanz herumtreibt. Er habe seine Anweisungen, verteidigte sich der junge Mann, er sei nur für Transporte zuständig. So rappelte ich mich aus dem Bett und sorgte einarmig dafür, dass die Frau notdürftig mit einem Morgenrock bedeckt wurde. Erst viel später half eine mitleidige Physiotherapeutin meiner Leidensgenossin in ein frisches T-Shirt.
Als Linkshänderin mit einer Woche Lernvorsprung nahm ich die folgenden Tage relativ lässig und ohne große Ansprüche an meine Umgebung. Anders meine Zimmernachbarin: Eine gestandene Frau um die 70 mit Haus und Boot auf der Höri. Eine Schulterverletzung, die jetzt behandelt worden war, zeugte davon, dass sie in Haus und Garten ordentlich zupackte. Das Stützgestell war ihr ständig im Weg und verhinderte jede spontane Regung. Bei Bedarf konnte sie eine Schmerzpumpe bedienen, in deren Schläuchen sie sich ständig verhedderte. Die Schmerzpumpe musste man wie eine etwas klobige Handtasche herumtragen, in der Regel hing sie am Galgen über dem Bett, wo sie beim Gang auf die Toilette auf Anhieb erstmal vergessen wurde.
Die Schmerzpumpe hatte eine Überraschung in petto. Eines Nachmittags begann sie sirenenartige Warntöne von sich zu geben. In der Leitung sei Luft, hieß es. Ein Schmerzpumpen-Spezialist wurde gerufen und ließ eine Weile auf sich warten – auch nachdem ich in der Cafeteria einen Kaffee getrunken hatte und mir viel Zeit dabei ließ – heulte sie bei meiner Rückkehr fröhlich vor sich hin.
Für Abwechslung sorgte die neue Krankenhaus-Wifi-Verbindung. Jeder Nachttisch in unserer Abteilung war mit einer modischen kombinierten Telefon- und Tablet-Konstruktion versehen. Die Krankenhaus-Flatrate belief sich auf stolze vier Euro pro Tag. Die Verbindung war meistens überlastet. Als wir bei unseren Bemühungen um ein Reset das Internetkabel herauszogen und wieder einstöpselten, erschien blitzartig eine Krankenschwester, um sich streng danach zu erkundigen, was wir vorhätten. Die Reaktionen auf den roten Notrufknopf waren wesentlich langsamer.
Ärzte waren höchst selten zu sehen
Sehr zum Ärger meiner Zimmernachbarin wurde uns nie Hilfe beim Waschen angeboten. Auch ich stellte überrascht fest, dass mein linker Arm in den kommenden Wochen wohl selten mit Seife in Berührung kommen würde. Nach und nach lernten wir, wenigstens die Problemzonen mit der Dusche zu erreichen und üble Körpergerüche notdürftig zu kaschieren. Meine Zimmernachbarin konnte ihr Deospray in der linken Achselhöhle nicht einsetzen. Das übernahm ich. Zum Dank musste ich mir den Witz von den zwei Blondinen anhören. Die eine brüstet sich damit, dass sie von ihrem Freund einen Deoroller geschenkt bekommen hätte, woraufhin die andere meint: „Aber du hast doch gar keinen Führerschein.“
Ärzte waren höchst selten zu sehen. Morgens vor dem Frühstück tauchten zwei übernächtigte junge Grünkittel auf und verkündeten mit wenigen Stichworten die medizinischen Maßnahmen des Tages: ein neuer Verband, neue Dosierung der Schmerzmittel. Besorgt fotografierte man für die Ferndiagnose des Chefs, den ich wissentlich nie zu sehen bekam, die tiefe Fleischwunde, die neben der operierten Sehne unter dem Verband vor sich hin moderte und die beim Auspacken immer noch heftig blutete. Eines Morgens meinte ich sogar meinen Operateur kennengelernt zu haben. Halb verborgen von der Schrankwand im Eingangsbereich nickte er mir zu und meinte aufmunternd: „Es hat alles geklappt.“
Erst als ich wieder zu Hause war, halfen mir Google und Co. dabei, den Krankenbericht zu verstehen.
Elisabeth Rehn