Theatertag auf dem Säntis mit Fernsicht und Zwölftonmusik
Zeitgleich mit dem Schlussapplaus donnerte ein Gewitter über den Säntis – als wollte die Bergwelt ihren Kommentar zu dem Theaterexperiment geben. Denn der Säntisgipfel spielt eine Hauptrolle in dieser Kammeroper – Auftragswerk des Theaters Konstanz in Kooperation mit der Südwestdeutschen Philharmonie. Und die Premiere von „Mord auf dem Säntis“ wurde dann auch eine Premiere voller Überraschungen.
Überraschung eins: Oper auf 2502 m – das kann klappen
Kein Theaterabend, ein halber Theatertag war das. Zunächst die 90 minütige Anfahrt zur Schwägalp, das Konstanzer Theater hatte eigens einen Bus gechartert, dann die nebelumwölkte Gondelauffahrt nebst Herzklopfen, sodann die windumbrauste Fernsicht von der Säntis-Terrasse, immer wieder von Nebelschwaden unterbrochen, ein Apero als Multi-Appetitanreger und schließlich die einstündige Kammeroper mit anschließendem Abendessen und abendlicher, eineinhalbstündiger Rückfahrt – alles im Preis inbegriffen.
Am Schluss wussten alle aus dem restlos ausverkauften Premieren-Publikum, manche Premierengäste fanden nur noch Stehplätze: Das Experiment ist geglückt, der Abend grandios gelungen. Dank der engagierten, zeitaufwändigen Mitarbeit aller Theater- und Philharmonie-Mitarbeiter – der neuerdings kurzhaarige Theater-Intendant Nix hat einmal wieder viel von ihnen verlangt.
Doch Philharmonie-Intendant-Riem ist schon zerknirscht, wenn er bekennt: „Ein finanzieller Erfolg wird das nicht“. Und das trotz des Sponsorings mehrerer Kantone und Stiftungen. An einer Vorab-Sondervorstellung der Oper auf dem Säntis übrigens nahmen Vertreter aus der Schweiz zahlreich teil – aus Konstanz fehlten Repräsentanten aus Politik und Verwaltung vollends.
Überraschung zwei: Kuhglocken und Zwölftonmusik – das geht zusammen
…und Jodeln mit Cello und Alphorn mit Kontrabss auch. Die zehn Instrumentalisten der Südwestdeutschen Philharmonie, verstärkt durch die beiden mit musizierenden Komponisten Noldi Alder und Friedrich Schenker, schafften einen spannend-spektakulären Klangteppich voller harmonischer Übergänge: Ohne Brüche zwischen volkstümlichen Weisen und neuzeitlicher Konzertmusik, aber immer mit feinem Gespür für die Dramaturgie des Stückes – zerrissen und schrill, wenn es um Dramatisches geht, lieblich und einschmeichelnd, wenn Retardierendes angesagt ist.
Das ist wesentlich der einfühlsamen, musikalischen Leitung von Arne Willimczik zu danken: Selten übertönten die Instrumente – selbst die phantasievollen Schlagzeuger nicht – die starken Sängerstimmen, kaum mal wirken die Übergänge von Walzerklängen zur Zwöfltonmusik schockierend, immer bleibt das kleine, famose Orchester moderat. Das ist schon großes Musiktheater.
Überraschung drei: Junge Darsteller und starke Stimmen – das passt zueinander
Die drei Solisten und sechs Chorsänger, in einem mühsamen Casting vor Monaten in Konstanz ausgewählt und aus der ganzen Welt zusammen geklaubt, prägten den Premierenabend: Eindrucksvolle Stimmen mit internationaler Erfahrung im kitzekleinen Ensemble. Da passte jeder Ton in Gesang wie Text – eine tolle Leistung von Regisseurin Jasmina Hadziametovic.
Herausragend allerdings Yikung Chung als Kreuzpointner (schon überraschend, einen Koreaner als Bayern im Appenzell zu besetzen). Eine gewaltige Tenorstimme mit gleichzeitig ungewöhnlichem schauspielerischen Talent – da stimmte das verzweifelte Trippeln und die hingebungsvolle Mimik ebenso wie überragende Stimmkraft und gekonnte Melodik.
Überraschung vier: Mord ohne Motiv – das gibt es auch
Theater-Intendant Christoph Nix aus Konstanz ist für die Story, das Libretto – seine Machart: mal lyrisch, mal episch – verantwortlich. Er will und kann die Motive für diesen Mord an dem Wettermelder-Paar auf dem Säntis im Jahr 1922 gar nicht aufklären. Er findet keine Antworten, stellt vielmehr Fragen: Mord aus Rachsucht oder sexueller Gier, aus Zufall oder wirtschaftlich-politischer Not? Aber er findet, und das ist das Plus dieses Librettos, einen Zugang zur Situation der 20iger Jahre im Appenzell. Da wird der Bayer Kreuzpointner als Ausländer diskriminiert und flugs als Mörder hingestellt, da wird die wirtschaftliche Not der Opfer und Mörder ausgeblendet – bis zur Unterschlagung der gesammelten Unterstützungsgelder für die hinterbliebenen Kinder.
Es fehlt höchstens eine Darstellung der Lebensumstände der Eheleute Haas auf der Wetterstation: Gerne hätte man mehr erfahren über das karge Miteinander auf dem Berg, über Versorgungsprobleme und – womöglich – Beziehungsprobleme. Vielleicht hätte sich da gar ein neuerliches Motiv für die Tat aufgetan.
Überraschung fünf: Der Panoramasaal auf dem Säntis taugt nicht fürs Theater
Acht Säulen, fast mehr noch als im Konstanzer Konzilsaal, versperren den Blick auf die ohnehin schon bescheidene Bühne – das Bühnenbild von Hella Prokoph geriet dann auch entsprechend simpel: Weiße Papierwände für den Schnee, eine einsame Eisenleiter, die den Säntis-Aufstieg symbolisiert – das war’s schon. Zuschauer am Rand des Saals verpassten die projizierten Informationen, Zuschauer in der Mitte den Blick aufs Orchester und die meisten die freie Sicht auf den Chor auf der Empore. Zur Akustik: Die Konstanzer Philharmoniker sind ohnehin Leid gewohnt.
Sogar der durchaus beeindruckende Schlussapplaus ging im Panoramasaal unter: Die viel zu tiefe Decke des Zuschauerraums deckelte jede, noch so begeisterte Beifallsäußerung.
Überraschung sechs: Trotz alledem tolles Theater
Das war nicht nur ein Theatertag, das war ein Theatererlebnis. Nicht nur Schauspielerei und Musik, sondern auch Landschaftserleben und sogar ein wenig Abenteuer. Womöglich geht so Theater in der Zukunft …
Autor: Hans-Peter Koch
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