Die Konstanzer Uni und die Stasi
Hat die Universität Konstanz von DDR-Schmuggelgeschäften eines früheren Mäzens profitiert? Der Schweizer Journalist Ricardo Tarli sagt: ja. Bei seinen Recherchen für das Buch „Operationsgebiet Schweiz. Die dunklen Geschäfte der Stasi“ hat er jedenfalls Hinweise auf Verbindungen des Mäzens und Kreuzlinger Unternehmers Kurt Lion zur Stasi gefunden. Im Interview erklärt er, wie er darauf gestoßen ist und was an den Vorwürfen dran ist.
Herr Tarli, Sie sind bei den Recherchen für Ihr Buch „Operationsgebiet Schweiz: Die dunklen Geschäfte der Stasi“ auch auf eine pikante Verbindung zwischen DDR-Schmuggelgeschäften und der Universität Konstanz gestoßen. Was war da los?
Nun, Akten aus dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) legen die Vermutung nahe, dass Gelder aus Schmuggelgeschäften der Universität Konstanz zugeflossen sind. Im Zentrum der fragwürdigen Geschäfte steht der Schweizer Textilunternehmer Kurt Lion. Lion, der 2001 verstarb, war einer der wichtigsten und einflussreichsten Mäzene der vor fünfzig Jahren in Konstanz am Bodensee gegründeten Reformuniversität. 1989 ernannte die Universität den hoch angesehenen Wohltäter zum Ehrensenator. Jetzt kommt ans Licht, dass Kurt Lions Unternehmen mutmaßlich in illegale Umgehungsgeschäfte der DDR verstrickt gewesen waren.
Können Sie das detaillierter beschreiben?
Kurt Lion, 1921 als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Konstanz geboren, war Teilhaber der traditionsreichen Textilhandelsfirma Lion in der Schweizer Nachbarstadt Kreuzlingen. Handelsgeschäfte mit den ostdeutschen Kommunisten haben Lion zu einem der vermögendsten Unternehmer im Kanton Thurgau gemacht. Zusammen mit seinem Bruder hatte Lion in den Fünfzigerjahren das Konstanzer Textilhandelsunternehmen Klawitter gegründet, das er zu einer erfolgreichen DDR-Vertreterfirma aufbaute. Über Klawitter verkaufte Lion Bekleidungsstücke aus ostdeutscher Produktion an westdeutsche Versand- und Kaufhäuser, wie Quelle, Otto oder C&A.
Das Geschäft mit Herrenoberbekleidung und Strumpfwaren aus dem Arbeiter- und Bauernstaat florierte: Klawitter erreichte einen Jahresumsatz in dreistelliger Millionenhöhe. Lion war auch Teilhaber der kleineren Schweizer Firma Solfix mit Sitz in Kreuzlingen, über die er ebenfalls Textilgeschäfte mit der DDR abwickelte, wenn auch in weit geringerem Umfang.
Und wie kommt jetzt die Schmuggelgeschichte dazu?
In den ausgewerteten Akten, die in der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin aufbewahrt werden, finden sich konkrete Hinweise, die darauf hindeuten, dass die von Kurt Lion kontrollierten Firmen Solfix und Klawitter in sogenannte „Sondergeschäfte“ mit dem ostdeutschen Staatsbetrieb Textilcommerz verwickelt waren. Unter Sondergeschäften verstand die Kommerzielle Koordinierung (KoKo), eine Diensteinheit der Stasi unter der Leitung eines gewissen Alexander Schalck-Golodkowski, Umgehungsgeschäfte mit Textilien.
Der Kleiderschmuggel funktionierte im Grundsatz nach dem folgenden Muster: Die Textilien, die in osteuropäischen oder asiatischen Ländern hergestellt worden waren, wurden von West-Firmen an die DDR geliefert, dort umdeklariert und als gefälschte DDR-Ware weiter in die Bundesrepublik oder in ein anderes westeuropäisches Land verkauft. Die beteiligten Unternehmen hinterzogen so Zölle und die Einfuhrumsatzsteuer und nahmen zusätzlich eine Umsatzsteuerrückvergütung in Anspruch, die ihnen nicht zustand. Die DDR diente Textilhändlern auf diese Weise als Schlupfloch, um das international vereinbarte Einfuhrkontingent zu umgehen und überschüssige Bekleidungsstücke aus asiatischen Billiglohnländern unverzollt in den Markt der Europäischen Gemeinschaft zu schleusen.
Das sind schwere Vorwürfe …
… die jedoch nicht aus der Luft gegriffen sind. In den Akten finden sich auch Hinweise auf Schmiergeldzahlungen und Steuerhinterziehung: Die Firmen Solfix und Klawitter sollen „im starken Maße mit dem Mittel der Korruption“ arbeiten, heißt es in einem Stasi-Bericht vom September 1970. Im Februar 1989 ist von „Geschäften am Rande der Schweizer Legalität“ die Rede. Bei Solfix sei Steuerhinterziehung, so die Stasi, „an der Tagesordnung“.
Wie sind Sie überhaupt auf die Geschichte aufmerksam geworden?
Während der Recherchen für mein Buch „Operationsgebiet Schweiz“ über die geheimen Geschäfte der Stasi in der Schweiz. Dieses Thema treibt mich seit mehreren Jahren um. Ausgangspunkt war der Mordfall Lenzlinger. Hans Ulrich Lenzlinger war ein Schweizer Fluchthelfer, der gegen viel Geld DDR-Bürger in den Westen schleuste. 1979 wurde er tot in seiner Zürcher Villa aufgefunden. Er wurde erschossen. Der Mord wurde nie aufgeklärt. Ich rollte den Fall neu auf und stieß im Zuge dieser Arbeit auf eine mysteriöse DDR-Tarnfirma in Lugano. Davon ausgehend lief die Recherche immer weiter und tiefer. Das Buch ist das Ergebnis dieser umfangreichen Recherchearbeit.
Wie und wo haben Sie recherchiert?
Vor allem im schweizerischen Bundesarchiv in Bern und in der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin. Insgesamt habe ich mehrere tausend Seiten an Akten durchgearbeitet. Lediglich ein halbes Dutzend Seiten dokumentieren Kurt Lions zweifelhafte Geschäfte mit der DDR.
Die Nachfahren der Familie Lion haben jeden Zusammenhang zu Schmuggelgeschäften bestritten. Wie sicher sind Sie, dass Ihre Informationen stimmen?
Die Akten sprechen eine klare Sprache. Kurt Lions Sohn Karl hat mir gegenüber erklärt, dass die Vorwürfe falsch seien. Eine Überprüfung durch die Zollfahndung in den Siebzigerjahren hätte zu keinerlei Beanstandungen geführt. Die Behörden konnten seinem Vater und den von ihm kontrollierten Firmen angeblich keine illegalen Geschäfte nachweisen.
Ist das dann nur Selbstschutz der Familie?
Diese Frage müssen Sie Karl Lion stellen.
Wie hat die Universität auf die Vorwürfe reagiert?
Der Universität waren die geheimen DDR-Geschäfte ihres größten Mäzens offenbar nicht bekannt. Weiter wollte die Uni die Stasi-Vorwürfe nicht kommentieren.
Hätten Sie da mehr erwartet?
Die Universität muss für sich selbst entscheiden, wie sie mit dieser Geschichte umgehen möchte und ob sie daraus irgendwelche Konsequenzen ziehen will. Weil Lion offenbar kein Vergehen nachgewiesen werden konnte, sieht die Uni zum heutigen Zeitpunkt keinen Anlass, von sich aus Nachforschungen anzustellen. Ich bin der Meinung, der Reformuniversität stünde es in jedem Fall gut an, wenn sie sich kritisch mit den zweifelhaften Ost-Geschäften ihres größten Mäzens auseinandersetzen würde, zumal die Uni eine Ehrenmedaille verleiht, die nach Kurt Lion benannt ist.
Werden Sie das Thema weiter verfolgen?
Auf jeden Fall. Die Schweiz war eine Drehscheibe für geheime Umgehungsgeschäfte der DDR, wie ich in meinem Buch anhand zahlreicher Beispiele darlege. Schade, dass in der Schweiz nur wenig Interesse an einer umfassenden Aufarbeitung besteht. Aufklärung ist, pauschal gesagt, nicht erwünscht. Dabei hätte vieles schon längst aufgeklärt sein können. In den 1990er Jahren wollte der schweizerische Nationalrat, die große Parlamentskammer, einen unabhängigen Sonderbeauftragten einsetzen, um die Stasi-Geschäfte mit der Schweiz zu durchleuchten. Das Vorhaben scheiterte leider am Widerstand des Ständerats, der kleinen Kammer. Ständerat Hans Stöckli (SP) unternahm vor nunmehr zwei Jahren einen neuen Anlauf und reichte einen entsprechenden Vorstoß ein, der leider auf wenig Resonanz gestoßen ist. Was mir noch wichtig ist zu sagen: Ich will die Verdienste von Kurt Lion um die deutsch-israelische Versöhnung keinesfalls schmälern. Es geht mir nicht darum, einen Menschen zu verunglimpfen, sondern einzig um historische Aufklärung. Der Fall Lion steht nämlich beispielhaft für die Umgehungsgeschäfte der DDR mit der Schweiz.
Fragen: Michael Lünstroth
Literaturhinweis: Ricardo Tarli, Operationsgebiet Schweiz. Die dunklen Geschäfte der Stasi, Verlag orell füssli, 2015.
Reaktion der Universität
In einer E-Mail schreibt Uni-Pressesprecherin Julia Wandt:
„Die Universität Konstanz hat erst durch die Anfrage von Herrn Tarli und den mitgesendeten Artikel Informationen über die Vorwürfe gegenüber der Familie Lion bzw. ihrer Unternehmen erhalten. Diese waren der Universität bis dahin nicht bekannt. Auch älteren Mitgliedern und früheren Rektoratsmitgliedern nicht, die in der Zeit, aus der diese Vorwürfe stammen, im Amt waren. Die Universität Konstanz hat die Ausführungen in dem Buchkapitel von Herrn Tarli zur Kenntnis genommen – wir kennen keine Details über die Geschäftsbeziehungen von Familie Lion. Da es, wie Herr Tarli schreibt, bereits Ermittlungen gegen die Familie und ihre Unternehmen gab, die zu keiner Bestätigung der Vorwürfe und zu keiner Verurteilung geführt haben, ist dies für uns maßgeblich. Mehr als die Zollfahndung, Wirtschaftsprüfer etc. können wir als Universität auch nicht herausbekommen. Deswegen wird es für uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine weitere Untersuchung dieser Vorwürfe geben.
Wie besprochen wurden und werden die Gelder von der Lion-Stiftung für den Austausch von Studierenden zwischen den Universitäten Konstanz und Tel Aviv verwendet (seit 1987). Bis 2013 gab es zusätzlich die Förderung von Projekten von Wissenschaftlern. Die Förderung des Studentenaustausches erfolgt über die Förderung von der Lion-Stiftung an den „Förderkreis für die Zusammenarbeit der Universitäten Konstanz und Tel Aviv“. Für die Details und Summen dieser Gelder für den Austausch bitte ich Sie, sich direkt an die Stiftung oder den Förderkreis zu wenden. Die Stiftung ist keine Stiftung der Universität und der Förderkreis ist ein eigenständiger Verein. Auch kennen wir als Universität nicht die Herkunft der Gelder der Lion-Stiftung sowie mögliche weitere Förderungen der Stiftung außerhalb dieses Studierendenaustausches und bis 2013 der Förderung von Projekten. Auch hierzu bitte ich Sie, sich direkt an die Stiftung zu wenden.“
Michael Lünstroth
Der Text ist am 18.11. zuerst erschienen auf: www.thurgaukultur.ch
es war ja sicher „ned bös gemeint“.
aber das zerrbild vom jüdischen geschäftlemacher drängt sich eben schon auf.
und dass man sich für beziehungen zu lebenden juden engagiert (denn solche gibt`s ja in tel aviv), das kann man sich anscheinend nur vor dem entsprechenden hintergrund vorstellen?
darüber dürfte man auch mal nachdenken.
ob der zitierte pressekodex nun immer sinnvoll ist oder nicht(gut gemeint ist sicher auch er), das sei dahingestellt.
was wir aber schon machen sollten, ist, gerade wenn wir jemanden „krummer geschäfte“ verdächtigen, das nicht an seiner herkunft „aufhängen“ sollten.
gerade in einer zeit, wo wir uns immer wieder erklären lassen, dass das phänomen von (selbst-)mordbrennern, die sich mit „allahu akbar“ in die menge stürzen, mit dem oder dem gar nichts zu tun hat.
Angesichts der Kritik hier frage ich mich, ob ich hier einen anderen Text vorliegen habe. Ich sehe hier im ganzen Text nur einmal den Bezug zum Judentum in „Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie“. Weder lesen ich hier, dass Herr Lion Jude sei, noch kann man bei einer einmaligen Erwähnung von einer besonderen Betonung sprechen. Außerdem handelt es sich um ein Interview, da kann man doch nicht einfach Teile weglassen? Wenn, dann müste die Kritik hier doch Ricardo Tarli treffen und nicht den Interviewer Lünstroth.
Und auch den Zusammenhang im Hinblick auf den Pressekodex finde ich hilfreich: Weiter im Text wird ja ausgeführt, dass die Lion-Stiftung (die ich nicht kannte) speziell für den Austausch zwischen Konstanz und Tel Aviv gegründet ist. Und bei einem Schweizer Textilunternehmer drängt sich dann ja die Frage auf, warum ausgerechnet der Austausch mit Tel Aviv gefördert wird. Und der Bezug zur jüdischen Familie ließ jetzt zumindest mich vermuten, dass da wohl familiäre Gründe eine Rolle spielen. Insofern ordnet das doch einfach nur ein?
Pressekodex Richtlinie 12.1:
„In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht.
Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.“
Für jüdische Geschäftemacher macht man aber mal `ne Ausnahme…Deutsche und Juden verbinden halt special relations, wie jeder weiss.
Mich macht dieser Beitrag sehr betroffen.
In mehreren tausend Seiten Stasi Akten bezogen sich etwa 6 Seiten auf Herrn Lion. Überprüfungen haben zu keinerlei Beanstandungen geführt.
Betont wird jedoch, Karl Lion sei Jude.
Welche Bedeutung hat die Religionszugehörigkeit von Herrn Lion bei der Aufklärung dieser Angelegenheit?
Warum wird sie überhaupt erwähnt?