Aus der Sicht des Bruders
Der Schriftsteller Hermann Kinder (Foto) ist Gast der Reihe „Konstanzer Literaturgespräche“ und liest – bereits am heutigen Mittwoch – in der Konstanzer Spiegelhalle aus seinem neuesten Buch „Portrait eines jungen Mannes aus alter Zeit.“ Darin schlägt er einen großen Bogen vom Ende des 2. Weltkriegs über den schwierigen Neubeginn mit Brennnesselsuppe in Notunterkünften bis zur Gegenwart. Geschildert wird die Zeit aus der Sicht eines älteren Bruders bis zu dessen Freitod im Februar 1963.
Hermann Kinder hat die längste Zeit seines Lebens am Bodensee verbracht. An der Universität lehrte er Literatur. Bis 1977 publizierte er fast ausschließlich wissenschaftliche Texte, im gleichen Jahr aber auch seinen ersten Roman „Der Schleiftrog“. Zum Ende des Sommersemesters 2008 ging Kinder in den Ruhestand. Seine Freunde bereiteten ihm einen würdigen Abschied: Ein Dutzend Autoren aus der Region lasen einen ganzen Tag Texte und diskutierten den Standort Literatur am See. Zwar zog Kinder, mittlerweile 72 Jahre alt, nach Köln, wo seine Frau, ebenfalls Literaturwissenschaftlerin, lebt und arbeitet, aber die Wohnung im Paradies wollte er nicht aufgeben. Immer wieder zieht es Hermann Kinder in den Süden, und schreiben ist immer noch eine Herausforderung.
Seit dem vielbeachteten Vater-Roman „Der Schleiftrog“ sind von ihm mehr als zwanzig Bücher erschienen, dazu 1981 das Stück „Bürgers Liebe“. Und obwohl Kinder seit einigen Jahren große gesundheitliche Probleme hat, publiziert er weiterhin. In der Erzählung „Der Weg allen Fleisches“ (2014) hat er – hinter einer Erzählfigur versteckt – seinen Umgang damit beschrieben. „Sterben mag ich nicht – das ist das Letzte, was ich tun werde“. Mit diesem Satz von Roberto Benigni endet das Buch, endet eine bewegende, ja erschütternde Geschichte. „Luzid und buchstäblich Atem beraubend“, so las der Schweizer Schriftsteller Klaus März das Buch.
Mit „Der Weg allen Fleisches“ war Kinder schon Gast der „Konstanzer Literaturgespräche“. Nun kommt er am Mittwoch, 23. November, 20 Uhr, erneut in die Spiegelhalle des Theaters Konstanz, um aus seinem neuesten Buch „Portrait eines jungen Mannes aus alter Zeit“ zu lesen. Darin schlägt er einen großen Bogen vom Ende des Zweiten Weltkriegs über den schwierigen Neubeginn mit Brennnesselsuppe in Notunterkünften bis zur Gegenwart. Geschildert wird die Zeit aus der Sicht eines älteren Bruders bis zu dessen Freitod im Februar 1963. Der unglückliche Bruder, dem in diesem Leben nicht zu helfen war – im Buch heißt er nur E. – war gerade 21 Jahre alt.
Die Tagebücher E.s und die Aufzeichnungen seiner Mutter halfen Kinder, die alltägliche Hoffnungslosigkeit jener Jahre und die mutigen Lebensentwürfe dieser Generation realistisch zu schildern. Was in der Erinnerung lebt, wie westfälische Plockwurst, Trinkwasser aus dem Wasserhahn, eine Tülle an der Kaffeekannen-Schnute, wird reflexionsreich und humorvoll konfrontiert mit seinen Beobachtungen zur Konsumgesellschaft der digitalen Jetzt-Zeit. Martin Zingg nannte das Buch in der „Neuen Zürcher Zeitung“ ein Meisterwerk.
Mit Hermann Kinder wird sich Peter Höner unterhalten. Höner ist Mitglied der Arbeitsgruppe „Konstanzer Literaturgespräche“, einer Veranstaltungsreihe der literarischen Gesellschaft „Forum Allmende“. Darüber hinaus ist Höner, der im Thurgau lebt, Schauspieler und Autor von Hörspielen, Theaterstücken und Büchern.
MM
Hermann Kinder/Peter Höner am 23.11. in der Spiegelhalle (Hafenstraße 10).
Karten zum Preis von 8.- € nur an der Abendkasse
Ein Abend, der sich gelohnt hat.
Hermann Kinder bescheiden, aber dezidiert und klar, souverän „eingerahmt“ von Peter Höner .
Der „junge Mann“, E, Kinders Bruder, respektvoll, aber nie vereinnahmend oder gar lobhudelnd gezeichnet. Mit ehrlichem Verweis auch auf das Unterscheidende, gerade aus der Rückblende heraus: Das Infragestellen der Sinnstiftung durch Kunst, die im Prozess des Zurücktretens der Religion zunehmend an deren Stelle tritt und mit Bedeutung überfrachtet wird.
Die „alte Zeit“ mittels bestechend scharf gezeichneter Bilder in Momenten „wiederauferstanden“, aber doch, gerade in der Spiegelung durch die Passagen aus der Jetzt-Zeit, als eben vergangen und auch abgeschlossen verstanden.
Weswegen sich Kinder im anschliessenden Publikumsgespräch auch klar positioniert gegen ein gefühltes „Eigentlich war das Gestern doch wie das Heute, und deswegen…“….eine Haltung, die, wie ich glaube, letztlich darauf abzielt, das als „so“ gewesen projizierte „Gestern“ zur Legitimation von doch recht eindimensionalen Positionen im „Heute“ zu benutzen.
Entgegen solcher Tendenzen erklärt sich Kinder als überzeugter Pluralist .
So ganz weit weg von seinem Bruder E („E“ nicht als Reduktion, Abkürzung, deswegen ohne Punkt) ist er da nicht:
E klaut in Berlin Blochs „Prinzip Hoffnung“ vom Ladentisch. Erwischt wurde er nicht, „…und schlug den dicken gelben Band auf. Er blätterte, zunehmend wütend werdend. Er mochte diese permanente Schelte von Bloch nicht, von dem im Westen so viel die Rede war. Ihn ärgerte, dass Ernst Bloch das ‚bürgerliche Sein‘ ‚einer niedergehenden alten Gesellschaft wie der heutigen im Westen‘ allein verantwortlich machte für Angst, Furcht, die ‚Ausweglosigkeit‘. Das ‚Leergewordene‘, ‚das Unaushaltbarste‘, das ‚Unerträgliche‘, während der Osten wohl die Patente für die ‚ursächliche Abstellung der Furcht-Inhalte‘ besaß. E holte sich noch einen Teller Erbsensuppe und blätterte weiter. In Ostberlin hatte er niemanden gesehen oder getroffen, auf den Blochs Propaganda gepasst hätte.“
Das drückt nicht nur die auch von Kinder nochmal erwähnte Ablehnung des Kommunismus durch E aus. Da scheint auch die generelle Distanz zu allzu eindimensionalen „Welterklärungsanleitungen“ durch.
Und noch etwas: Der Reporter der Jetzt-Zeit im Buch „ist“ nicht Kinder.
Der kritische, ironische Blick auf das „Jetzt“ ist sicherlich (auch) der seine; die Tendenz, Zukunft aus der möglichst genauen Beobachtung der Gegenwart in Form des „Zeitgeists“ zu „erfassen“ und dadurch vorweg bestimmen zu können, ist für ihn, den „überzeugten Pluralisten“ dagegen schlicht lächerlich. Wofür er den eifrigen „Zeitgeistjäger“, den ironisch berichtenden Reporter des „Jetzt“, seinerseits ironisiert, also hörbar auslacht.