Rettung der Geburtshilfe? Ja, aber …
Nach über dreistündiger Debatte einigte sich der Kreistag in der Frage, ob die Geburtshilfe am Krankenhaus Radolfzell erhalten bleiben soll, auf einen faulen Kompromiss. Über fünf Jahre lang könnte die Belegarzt-Station subventioniert werden, wenn … Und dann kommen die Fragezeichen.
Weit über 100 DemonstrantInnen belagerten das Konstanzer Landratsamt und füllten später im Sitzungsaal alle Besucherplätze, um ihrer Forderung den nötigen Nachdruck zu verleihen: „Die Geburtshilfe in Radolfzell muss bleiben. Gesundheitsverbund und Landkreis müssen Finanzspritzen gewähren, um die Belegarzt-Station zu retten“.
„Skandal im Kreißsaal“
Mit pfiffigen Umdichtungen bekannter Schlager heizten die Demonstrantinnen, fast nur Mütter und Hebammen, dem Landrat Frank Hämmerle und nur wenigen verdutzten Kreisräten vor der Sitzung ein; mit schlagkräftigen Argumenten belegten in der Sitzung niedergelassene GynäkologInnen und Belegärzte die Notwendigkeit einer Geburtshilfe in Radolfzell und die Risiken einer Verteilung der Schwangeren auf die Kliniken in Konstanz und Singen; Geschäftsführer und Chefärzte konnten die Befürchtungen kaum zerstreuen.
Noch am Tag der Entscheidung flatterten den KreisrätInnen immer neue Anträge auf den Tisch: Letztlich standen fünf alternierende Anträge zur Abstimmung, die von einer ersatzlosen Streichung der Geburtshilfe bis zu vollständigen Kostenübernahme durch den Landkreis und/oder den Gesundheitsverbund reichten.
Natürlich ließ es keiner der Kreistagsredner aus, sein Mitgefühl für die werdenden Mütter zu betonen, doch zwischen den Sätzen wurden die politischen Unterschiede deutlich wie selten. Während Uli Burchardt als CDU-Fraktionsvorsitzender eine Verantwortung des Landkreises durchweg abstritt und der FDP-Sprecher Geiger vor Präzedenzfällen warnte („dann will bald jede defizitäre Klinikabteilung noch mehr Geld“), betonten die linken Kreisräte Koch und Radojevic die Verantwortung der Politik für eine flächendeckende Versorgung in Gesundheitsfragen. Hans-Peter Koch: „Betriebswirtschaftliche Entscheidungen dürfen nicht auf dem Rücken der Mütter gefällt werden.“
Während Anne Overlack aus Feministen-Sicht sehr engagiert für einen Antrag der Grünen stritt, der ein weitergehendes Engagement des Landkreises befürwortete, fiel die SPD durch peinliche Zurückhaltung auf. Außer einem Statement ihres Granden Jürgen Leipold, der Formales in den Anträgen kritisierte, war von den Sozialdemokraten nichts zu vernehmen.
Wenn das Wörtchen ‚wenn‘ nicht wär
Nach vielen Umformulierungen einigte sich der Kreistag schließlich auf einen Antrag von Rainer Stolz, Stockacher Bürgermeister, der sein Krankenhaus aus dem Gesundheitsverbund ausgegliedert hat: Unter der Voraussetzung, dass die Stadt Radolfzell als „Besteller der Geburtshilfe“ auftritt, ist der Landkreis neben anderen Geldgebern bereit, „für ein eventuell auftretendes Defizit der Geburtshilfsstation am Krankenhaus Radolfzell in Höhe von jährlich maximal 100 000 Euro“ einzutreten. „Die Zusage ist auf fünf Jahre begrenzt.“
Und dann kommen die Fragezeichen: Verschiedene juristische Gutachten widersprechen sich in der Wertung der Frage, ob die Stadt Radolfzell nach EU-Anordnung überhaupt als ‚Besteller‘ mit dann Bezahlpflicht fungieren darf; können und dürfen andere Geldgeber, wie z. B. die Werner- und Erika-Messmer-Stiftung per Spende zubuttern, und wie wird die Defizithöhe ermittelt – etliche Kreisräte äußerten erhebliche Zweifel am entsprechenden Zahlenwerk der Geschäftsführung des Gesundheitsverbundes.
Was bleibt? Die Geburtshilfsstation am Krankenhaus Radolfzell arbeitet wohl bis Ende Januar 2017 weiter (dann läuft der Haftpflicht-Versicherungs-Vertrag der Belegärzte aus). Bis dahin müssen die widersprüchlichen juristischen Stellungnahmen auf einen Nenner gebracht werden, dann muss der Kreistag in den Haushaltsberatungen Ende Januar dem zusätzlichen Finanzbedarf zustimmen – da gibt es also genügend Fallstricke.
Der Verdacht liegt nahe, dass die bürgerliche Mehrheit aus CDU, Freien Wählern und FDP im Kreistag auf verklausulierten Umwegen ein Ende der Geburtshilfe in Radolfzell bewirkt hat. Dafür spricht auch, dass eben diese Mehrheit eine namentliche Abstimmung verhinderte. Feiglinge vor.
hpk
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Finanzspritzen, aber vor allem Fingerspitzen-Gefühl hätte es gebraucht. Mit Sorge sehe ich, wie Landrat Hämmerle sogar vor der Fernsehkamera mit einer aggressiven Stimme auf die Demonstranten zugeht. Es scheint, dass ihn auch die Flüchtlingssituation abstumpfen ließ in einem respektvollen Umgang mit dem Souverän. Die Ausgangssituation war schwierig, wenn Vorwürfe an diejenigen gerichtet werden, die nicht die Akteure in diesem Drama sind – die Mütter, die um die Versorgung fürchten. Die Angriffslust gegen die Protestierenden schien größer als der Wille, eine Lösung zu finden. Die Stimmung schockierte mich wieder einmal, war sie – wie es der Bericht gut darlegt – doch, wie in vielen anderen Fällen auch, von Abweisung getragen, von Seiten einer großen Mehrheit des Kreisrates auf scheinbare Hilflosigkeit ausgelegt. Nicht zuständig zu sein, das ist immer eine gute Ausrede. Man möge in diesem Zusammenhang aber fragen, was denn passieren würde, wenn sich die FDP-Befürchtungen einmal umdrehen, wenn plötzlich eine Klinikabteilung nach der anderen vor der Frage des Überlebens steht, nicht weil man mehr Geld möchte, sondern weil der Politik die Gesundheit zu teuer wird. Dann werden Ausflüchte nicht mehr ausreichen…