Singener Katerstimmung

Es ist vorbei, das Jahr 2016. Und nun, beim Blick zurück durch Rauchschwaden und Feinstaubwolken der überstandenen nächt­lichen Böllerei kommen mir diese Zeilen in den Sinn „… Wenn das Leben einer Schule gleicht, so war dies Jahr ein schwachbegabter Knabe und hat das Ziel der Klasse nicht erreicht“. Geschrieben 1933 in Berlin von der Lyrikerin Mascha Kaléko* und leider allzu zutreffend auf das Weltgeschehen 2016.

Auch das vergangene Jahr in Singen hinterlässt sehr gemischte Gefühle – einmal mehr hat man gelernt, die Bedeutung von Wahlversprechen, Wahlprognosen und Wahlergebnissen zu beachten: Bei der Landtagswahl machten 3.586 SingerInnen bei den Rechtspopulisten ihr Kreuzchen – das sind sage und schreibe 20,18% und somit jeder achte Wahlberechtigte in dieser Stadt. So konnte auch deren Kandidat in den Landtag einziehen … und Singens „bunte Weste“ hat ein paar braune Flecken.

Die Worthülsen der Marketingleute

Die nächste Wahl dann hoch emotional: 7.813 BürgerInnen wollen künftig „event-shoppen“, 5.502 sehen den Konsumtempel kritisch und lehnten ihn ab, 19.345 war die Entscheidung offensichtlich gleichgültig. Schade. Enttäuschung auf Seiten der UnterstützerInnen der Bürgerinitiative „Für Singen“; Jubel auf Seiten all derer, die den segensreichen Versprechungen des Großkonzerns Otto Group weiter Glauben schenken. Dort dürften in der Silvesternacht reichlich Champagnerkorken geknallt haben: We are the champions, die Gewinner der Globalisierung, wie ja schon bei den Werbeveranstaltungen von dieser Seite zu hören war.

Singens Zukunft wird seitdem von Planern, Entscheidern und Unterstützern der Konsumfestung CANO in den strahlendsten Farben ausgemalt: in Gestalt einer „Chancenstadt“ (O-Ton Gerd Springe, Vorsitzender des Stadtmarketingvereins „Singen aktiv“). Chancen? Für wen? Von der „Arbeiterstadt“ zur „arbeitenden Stadt“ habe sich Singen entwickelt, so eine der liebsten Worthülsen von Claudia Kessler-Franzen, Geschäftsführerin desselben Vereins. Aus der „schmuddelig-grauen Industriestadt“ sei eine „Wohlfühlstadt“ geworden. Damit kann doch nur gemeint sein, dass die Stadt das Image der Arbeiterstadt abschütteln will, welches wohl die Erinnerung an Zeiten weckt, als ArbeiterInnen noch rot waren und auch so wählten (richtig rot seinerzeit).

Heute sind die ehemaligen ArbeiterInnen zu angepassten KonsumentInnen umerzogen worden und jene, die diese Metamorphose nicht geschafft haben, sind längst in die Perspektivlosigkeit abgedrängt worden und als Versager abgestempelt. An diesem Entwicklungsprozess sind die allzeit dienstbeflissenen Marketing-Manager – bescheiden, wie sie sich geben – nicht ganz unbeteiligt. Sie werden sicher auch noch Wege finden, damit die aus ihrer Sicht zu vielen zu wenig fröhlichen Versager das schöne Bild einer „Einkaufskultur“ in der „Wohlfühlstadt“ nicht mehr stören.

Die Häme der Habenden

2016 ist vorbei. Die GVV-Pleite aufgearbeitet. Es bleibt ein Millionenloch für die Stadt und der Verlust aller ihrer eigenen Wohnungen. Und doch ist Jauchzen aus Reihen des neoliberalen Blocks zu vernehmen: Investoren interessieren sich wieder für „unsere“ Stadt. Der Druck derjenigen, die ihre virtuellen Billionen in reale Werte umtauschen möchten und ihre Macht „begreifen“ wollen, sich fühlen wollen wie einst die absolutistischen Potentaten, ist genauso groß wie ihre Angst, zu spät zu kommen bei der letzten großen „Auktion“. Denn wenn es nach deren Ende nichts mehr zu ersteigern gäbe, wären diejenigen, die ohne Beute, nur mit wertlosen Versprechen auf todsichere Gewinnchancen dastünden, so dran wie heute die Tagelöhner und Bauchladen-Betreiber in Chile vor den luxuriösen Shopping-Malls, die einst „ihren“ Interessenvertretern und Parteien geglaubt haben** … Aber davor braucht sich hierzulande niemand zu fürchten – bei uns haben solche Einkaufszentren private Sicherheitsdienste mit weitreichenden quasi-hoheitlichen Befugnissen, die auch die erfolglosen Auktionsteilnehmer vor einem solchen Schicksal „bewahren“ würden. Doch die Häme der Habenden – derer, die etwas ergattert haben und weiter im Spiel bleiben beim großen Monopoly – wäre ihnen gewiss … Aber gemach, noch gibt es genug Städte mit „Bürgervertretern“, die bereitwillig alles noch verbliebene Gemeingut verscherbeln.

Die Bauchschmerzen der SPD

2017 werden in Singen mehrere 100 Wohnungen neu entstehen, aber sozial verträglicher Wohnungsbau bleibt Mangelware oder wird allenfalls in homöopathischen Dosen verabreicht, wie die 25 geförderten Mietwohnungen am Malvenweg. Das wird nicht reichen. Und das bereitet ganz plötzlich und unverhofft auch der SPD Bauchschmerzen. Das Wahljahr 2017 beginnt und es ist allerhöchste Zeit, denn die Prognose für die GenossInnen ist auch mit rosaroter Brille desolat (es müssen ja nicht gleich „minus 14,5%“ sein, wie in der „Anstalt“ vorhergesagt). Woher aber Wähler nehmen? So besinnt man sich in der SPD wieder darauf, dass das S im Namen wohl doch nicht so einfach in sozial-darwinistisch umzudeuten ist, wenn man genasführte ehemalige SPD-WählerInnen wiedergewinnen will.

2017 wird das Jahr der Baustellen, frohlockt OB Häusler: Bebauung des Kunsthallen-Areals, Umgestaltung des Herz-Jesu-Platzes mit zweigeschossiger Tiefgarage, Abriss des „Schandflecks Conti“ zur Errichtung des Scheffel-Areals, Wohnungsbau am Malvenweg, an der „Friedenslinde“, Neugestaltung des Bahnhofsvorplatzes und Abriss des Holzerbaus. – Verkehrschaos und Megastaus inklusive, befürchtet ebenso plötzlich und völlig unerwartet die SPD und fordert ein Konzept zur Entzerrung. Klang das vor Monaten nicht noch ganz anders bei der Werbeparty der Genossen, deren Fraktion zu den glühenden Befürwortern des Konsumkolosses gehört?

Das Auto-Hobby des Millionärspaars

Aber betrachten wir lieber die schönen Dingen des Lebens: Das MAC 1, unsere städtisch subventionierte Altauto-Garage – ääh ’ntschuldigung, sollte besser sagen, unser kleines super-erfolgreiches Oldtimer- und Kunstmuseum – bekommt ein Schwesterchen (ja, so war es wirklich im Singener Wochenblatt zu lesen: „MAC-Geschwisterpaar strahlt Ende 2018 gemeinsam“). Der kleine Wonneproppen wächst und gedeiht schon und soll als 26 Meter hohe, fünfgeschossige, fensterlose Festung dreimal so groß werden wie das „anmutige“ MAC 1: Noch mehr Platz für Maiers Oldtimer, nebst Licht- und Videokunstinstallationen für junge Besucher. Einmalig im süddeutschen Raum, so Hermann Maier vor geladenen Gästen (natürlich ohne meine Wenigkeit) bei der Grundsteinlegung. Darüber, wie großzügig die Stadt das Auto-Hobby des Millionärsehepaars fördert, wurde auf seemoz schon berichtet.

OB Häusler sieht das freilich anders: Schließlich sei Singen nicht nur Einkaufs-, sondern auch „Kunststadt“ und mit dem „besonderen Engagement“ des „Stifterpaares“ werde ein „Mehrwert geschaffen“. Auch hier dürfte der Schampus nur so gesprudelt sein, bei der Rückschau auf ein erfolgreich gefördertes 2016 und ein Weiter so 2017.

Andere dagegen hofften 2016 vergeblich: so die Jenischen auf die Zusage seitens Stadt und Gemeinderat für ihr geplantes Kulturzentrum. Aber das ist eine Geschichte des anderen Singen, nicht desjenigen der Sieger, der Schönen und Reichen.

Fritz Murr (Foto: neon-stengele)

* Mascha Kaléko, Das lyrische Stenogrammheft, © 1933 by Mascha Kaléko, © 1975 by Gisela Zoch-Westphal
** http://www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/299/wider-die-ueberfluessigen-dinge-4078.html