Wenn die Arbeiterklasse rechts wählt

Anhand zweier Buch-Neuerscheinungen kommt unser Autor zwei Politik-Ereignissen auf die Spur: Dem Aufstieg des Front National in Frankreich und der Wahl Donald Trumps in den USA. Ernst Köhler räumt auf mit flotten Erklärungsversuchen und überlässt es den Autoren, von ihrem Aufstieg aus der Arbeiterklasse zu erzählen – und erst dadurch zu verstehen, was Arbeiterklasse wirklich ist.

Den freischwebenden Intellekt gibt es nicht. Jedem Bild der Gesellschaft, jeder Soziologie etwa liegt eine persönliche Erfahrung zugrunde. Am Anfang steht immer ein Moment der persönlichen Aneignung. Will heißen: steht immer ein Beobachter, ein Zeuge, ein Zeitgenosse, der die ihn umgebenden sozialen Verhältnisse auf seine Weise wahrnimmt. Das kann abrupt geschehen und geschieht oft abrupt – nach oft jahrlangem sturen, starren, wie geistesabwesenden Vorbeilaufen an der doch unmittelbar vor einem liegenden sozialen Realität. Die sich dann unerwartet und scheinbar wie von selbst enthüllt. Die uns auf einmal geradezu anzuspringen scheint. Schön, wenn dieser seltene, kostbare Blitz der Hellsicht inmitten dumpfer Denk- und Blickroutinen dann nicht etwa in einem wissenschaftlichen Text so verarbeitet wird, dass er wieder verblasst und verschwindet. Weil nämlich der Text so tut, als lebe er von der Wissenschaft. Als lebe die Wissenschaft von der Wissenschaft. Als brauche es dieses schäbigen, späten, peinlichen Groschens gar nicht, der fällt, wann und wo er will. Wenn er überhaupt fällt. Noch schöner, wenn der Durchbruch des Begreifens in den Kontext einer ganzen Autobiografie gestellt wird. Wenn die Gesellschaftsanalyse also aus einer höchst persönlichen Lebens- und Lerngeschichte heraus entwickelt wird, gewissermaßen erzählt. Denn dann haben wir die volle, nackte Rechenschaft einer solchen Analyse für sich selbst vor uns, eines Autors für sich selbst. Ohne Rückgriff auf irgendeine etablierte Autorität und Sprache der Wissenschaft.

Zwei Neuerscheinungen der letzten Zeit machen es uns vor. Und da beide Werke zu eminenten politischen Themen der Gegenwart Stellung nehmen – Rückkehr nach Reims von Didier Eribon (2016) zum Aufstieg des Front National in Frankreich, Hillbilly Elegy von J.D. Vance (2016) zur Wahl Donald Trumps in den USA – dürfen wir getrost von einer Sternstunde der politischen Literatur sprechen.

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn Berlin 2016 (edition suhrkamp)

Von der Selbstverleugnung als Arbeiterkind

In den Konfessionen von Didier Eribon, einem prominenten französischen Soziologen, ist das ursprüngliche subjektive Gefühl, das den analytischen Blick leitet und inspiriert, die Scham darüber, aus der Arbeiterklasse zu stammen. Aber erst nachdem sich dieser Minderwertigkeitskomplex ein paar Jahrzehnte lang ausgetobt hat als blinde Triebkraft hinter der Flucht aus dem proletarischen Herkunftsmilieu im Nordosten Frankreichs, in den Vorstädten von Reims. Ausgelebt hinter einem langen Bildungsweg, einer leidenschaftlich verfolgten Karriere, die nur in die intellektuelle Elite von Paris hineinführen kann. Erst nachdem es sein fernes Ziel erreicht hat, erst als es sozusagen satt und matt geworden ist, kommt das lebenslange Gefühl der sozialen Inferiorität zu sich und wird zur schmerzhaften Erleuchtung.

Anders gesagt: Der Verrat als Motor hinter Ausbruch und Aufstieg, der Widerwille, das Ressentiment gegen die eigenen Leute, bleibt sich selber verschleiert, unsichtbar, bleibt über viele Jahre unverstanden, ja unerkannt. Anders als eine zweite Kraft, die den jungen Eribon seiner Familie entfremdet und ihn zum Bruch mit ihr und dem Leben in der Provinz bringt: die Homosexualität und der Wunsch und Wille, sie zu leben.

Seine Selbstbefreiung als Schwuler hat den Autor dann zu einem libertären Denker reifen lassen, der sich nicht nur der eigenen Identität widmet, sondern die Entrechtung einer ausgegrenzten Minderheit zu durchdenken beginnt und dabei von Geistesverwandten wie Michel Foucault und Pierre Bourdieu zehrt und lernt. Seine Selbstverleugnung als Arbeiterkind hingegen, die zum Habitus ausgeformte Überanpassung an die intellektuelle und akademische Welt der Metropole offenbart sich ihm in ihrer ganzen Tragweite erst, als sein Vater stirbt. Der hochrangige Sohn weigert sich zwar noch, zum Begräbnis nach Hause zu fahren. Aber diese Härte ist die Wende.

Der Gelehrte erwacht. Er erkennt sich selbst. Er kehrt an die Orte seiner Kindheit und Jugend zurück. Ganz ohne Sentimentalität und Nostalgie, verletzt, erschüttert angesichts der eigenen Würdelosigkeit, voller Scham über die alte Scham und mit der Bereitschaft, die so radikal verdrängten eigenen Wurzeln jetzt endlich an sich herankommen, die so lange ausgeblendete Dimension des eigenen Selbst jetzt endlich gelten zu lassen. Mit dem ungeliebten, immer gnadenlos vermiedenen Vater kann er nicht mehr sprechen – und so unglücklich ist er darüber auch gar nicht. Aber mit der Mutter. Die Verbindung zu ihr hat er nie ganz abreißen lassen. Aber erst jetzt lernt er, der alten, abgearbeiteten, desillusionierten Frau zuzuhören. Die Gespräche mit ihr, die neue Aufmerksamkeit, der neue Respekt für das, was sie zu sagen hat – über sich selbst, über ihr eingeschränktes Leben, über ihre Armut, aber auch über ihren Mann, den sie bei aller Distanz als zeitlebens malochenden Industriearbeiter ohne jede Perspektive würdigt und verteidigt, sind ein Höhepunkt des Buches.

Aber im Zuge dieser Rückkehr und Wiederbegegnung – dieser Katharsis möchte man sagen – eröffnet sich dem an sich erfahrenen, unbestechlichen Sozialforscher ein neuer Blick auf sein Land: auf das Frankreich von heute und seine Sozialordnung. Dass es eine Ordnung der Gewalt ist – hinter und über den demokratischen Institutionen, weiß er seit langem und hat er selbst aufgezeigt. Aber dass es die Gewalt einer Klassengesellschaft ist, in der die Menschen, die unten sind, auch unten bleiben – samt ihren Kindern und sogar Kindeskindern – ist in dieser brutalen Unveränderlichkeit neu für den arrivierten Kritiker.

Er selbst ist diesem eisernen Zirkel mit Glück entkommen, aber ein Arbeiterkind fängt in den 50er Jahren mit 14 an zu arbeiten. Das ist selbstverständlich. Und es ist gewollt – von oben ohnehin, aber auch von unten. Es ist von unten selbstbewusst und mit Stolz gewollt. Bildung ist für andere. Die Sozialordnung setzt sich gleichsam hinterrücks durch – mit der vollen Zustimmung der Geschädigten.

Damit ist das soziale Schicksal dieser Jugend bereits entschieden – vorgezeichnet, festgelegt bis zum Lebensende. Aber die Tragik dieser destruktiven Normalität liegt nicht zuletzt darin, dass sie der jungen Generation jeweils als freie Wahl erscheint. Hat sich seitdem etwas geändert? Der Autor kann nur gewisse Modifikationen im heutigen französischen Bildungssystem erkennen, keine wesentliche Erneuerung, keine Öffnung, keine Gerechtigkeit. „Wenn die Angehörigen benachteiligter Klassen glauben, sie hätten eine alte Zugangsschranke überwunden, müssen sie häufig feststellen, dass das Erreichte mittlerweile seinen Wert verloren hat. Der Abstieg mag langsamer verlaufen, der Ausschluss später stattfinden, aber der Abstand zwischen den Herrschenden und den Beherrschten bleibt konstant. Er reproduziert sich, indem er sich verschiebt.“

Selbstverständlich ist für dieses Arbeitermilieu der Nachkriegszeit auch, dass man die Kommunisten wählt. Nicht aus Liebe zur Sowjetunion, Politik dieser Art war zweitrangig bis bedeutungslos. Prag 1968 wird mit peinlichem Schweigen quittiert. Sondern aus Selbstachtung. In keiner anderen Partei erkennt man sich wieder: seine Abhängigkeit, seinen Aussichtslosigkeit, seine Ausgesetztheit, seine Erschöpfung, seine typischen Krankheiten, seine tägliche Erfahrung als einfacher Arbeiter in der Fabrik. Von dieser Selbstverständlichkeit ist heute nichts mehr übrig. Von der parteipolitischen Loyalität der Eltern und Großeltern ist nichts mehr geblieben. Die Altersgenossen, die Cousins des Autors und ihre Kinder wählen heute gern rechtsradikal. Ohne Skrupel.

Wem unsere endlosen Diskurse über Populismus, Globalisierungsangst usw. schon zu den Ohren herauskommen – nicht weil sie falsch wären, sondern weil sie wohlfeil und unterkomplex sind, muss das lesen. Der Text führt uns von einer Psychologie der Angst und Sorge, die zu oft nur den Einzelnen, das isolierte Individuum im Auge hat, zurück zur politischen Landschaft mit ihren Parteien, Machtverhältnissen und ihren Chancen oder fehlenden, abgeschafften Chancen des Handelns: „Vor dem Streik ist der französische Arbeiter spontan rassistisch und traut den Einwanderern nicht über den Weg, während des Streiks aber verschwinden diese niedrigen Empfindungen. Dann herrscht die Solidarität, und sei es nur eine partielle und vorübergehende. Die fehlende Mobilisierung als Gruppe bzw. die fehlende Selbstwahrnehmung als solidarisch-mobilisierbare Gruppe …führt dazu, dass rassistische Kategorien die sozialen ersetzen. Wenn die Linke die Mobilisierbarkeit der Gruppe löscht, dann rekonstituiert diese sich anhand eines anderen, diesmal nationalen Prinzips, anhand der Selbstwahrnehmung als ‚legitime’ Population eines Territoriums, das einem scheinbar weggenommen wird und von dem man sich vertrieben fühlt: Das Viertel, in dem man lebt, ist für das Selbstverständnis und die Sicht auf die Welt nun wichtiger als der Arbeitsplatz und die Position im sozialen Gefüge.“

Das Phänomen Trump

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J.D. Vance: Hillbilly Elegy. A Memoir of a Family and Culture in Crisis, London 2016 (William Collins Books)

Auch in der Familiengeschichte von J.D. Vance – A Memoir of a Family and Culture in Crisis, so der Untertitel des Werkes – ist es ein starkes, beständiges Gefühl, das die Feder führt und das Bild einer spezifischen Arbeiterklasse entwirft: das der weißen Arbeiterbevölkerung in den ehemals industrialisierten, heute desindustrialisierten Regionen des Appalachen-Mittelgebirges im Osten der USA. Aber ganz anders als bei Didier Eribon ist es hier die innige, unverbrüchliche Verbundenheit des Autors mit seiner Heimat und mit den Menschen, unter denen er aufgewachsen ist – speziell in der Kleinstadt Jackson, Kentucky, und Middletown, Ohio, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht hat. Und was für eine Liebe ist das! Die Gegend hat, wie man sich erinnert, als „Rust Belt“ beim Nachdenken über Donald Trump und seinen unerwarteten Aufstieg eine prominente Rolle gespielt – eine viel zu prominente, wie man heute, nach seinem flächendeckenden Wahlerfolg sagen muss.

Das Phänomen Trump lässt sich nicht allein auf die Erbitterung und Verzweiflung einer ökonomisch abgehängten, verarmten und in ihren Lebensformen angegriffenen Region zurückführen. Aber diese Relativierung einer besonderen, regional verschärften Notlage im Blick auf den Ausgang der letzten Präsidentschaftswahlen macht das Buch von J.D. Vance um keinen Deut weniger lesenswert, weniger ergreifend. Um diesem außerordentlichen Text gerecht zu werden, muss man schon zu fast paradoxen Formulierungen zu greifen: es ist eine schonungslose, unbestechliche, eine unerbittlich aufrichtige Liebe, die wir hier arbeiten sehen. Ohne Spur von Apologetik oder Trotz, wie sie in der Atmosphäre dieses verwahrlosten Wahlkampfes doch nahe gelegen hätten. Wenn ein solcher Hillbilly etwa ein Kind nach dem anderen macht, ohne für sie zu sorgen, dann wird es auch gesagt. Knapp, direkt, ohne viel Moralisieren. Verantwortungslosigkeit ist Verantwortungslosigkeit. Insofern ist das ein sehr amerikanisches Buch. Larmoyanz, diffuse Schuldzuweisungen bleiben ausgeschlossen.

J.D. Vance geht ans Eingemachte. Wenn ein junger, gesunder Mann, dessen Freundin schwanger ist, einen körperlich anstrengenden, aber gut bezahlten Arbeitsplatz hat und ihn durch Unzuverlässigkeit verspielt, ist er kein Opfer der Gesellschaft, sondern ein Drückeberger. Das in dieser Region traditionell hochgehaltene Selbstverständnis der Leute als „hart arbeitender“, aber eben verlassener, vergessener Menschen, das Donald Trump als Wahlkämpfer so effizient bedient hat und als Präsident weiter bedient, kann sehr wohl auch ein Selbstbetrug sein, eine Lebenslüge.

Was uns hier unplakativ, aber auch ungeschminkt vor Augen geführt wird, ist eine populäre Kultur, die dabei ist, sich zu zersetzen und hohl zu werden. Es ist ein Prozess, es sind keine vollendeten Tatsachen – in dieser Unterscheidung zeigt und bewährt sich die Liebe. Niemand sieht sich hier denunziert oder gar fallen gelassen, aber Gerede gilt nicht. Die alleinerziehenden Frauen mit ihren Kindern, die noch nie gearbeitet haben und die ganze Zeit über von staatlichen Leistungen leben, sind hier weiß – nicht schwarz, wie das öffentliche Klischee es will.

Auch hier ist es wieder eine alte Frau, die im Mittelpunkt der Erinnerungen steht. Diesmal ist es die Großmutter (Mamaw) des Autors – die keineswegs lieblose, aber chaotische Mutter mit ihren wechselnden Männerbeziehungen und ihrer Attacken von Drogenabhängigkeit kann dem Kind und dem Jugendlichen beim besten Willen keinen Halt und keine familiäre Stabilität bieten. Wenn der Junge überhaupt aus diesem herabziehenden, zukunftsversperrenden Umfeld herauskommt, auf weiterführende Schulen gelangt und sich dort auch halten kann, verdankt es nahezu ausschließlich dieser Frau, der er voll vertraut und auch vertrauen kann, die er verehrt, die ihn ins Leben einführt.

Es ist dies freilich keine großmütterliche Figur, wie wir sie uns hier vielleicht vorstellen. Sie ist vielmehr – als Frau – geradezu die Personifizierung der persönlichen bewaffneten Wehrhaftigkeit, wie sie für diese Nachfahren der einstigen Einwanderer aus Schottland und Irland bis heute verbindlich ist – als vorbildlich und ehrenvoll gilt. Und sie genießt gerade wegen dieser beiden exemplarischen Züge alter Schule – fraglose, selbstlose Loyalität der eigenen Familie gegenüber; eine archaisch anmutende Konflikt- und Gewaltbereitschaft, wenn es hat auf hart kommt – großes Ansehen in der ganzen Gegend. Sie ist hier so etwas wie eine lebende Legende. Es hat diesem Respekt auch keinen Abbruch getan, dass es im Leben dieser Frau zwei Situationen gab, in denen sie zum Mord bereit war: einmal, als sie als Zwölfjährige auf Viehdiebe schießt, die ihre Familie in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedrohen; später dann als Erwachsene, als sie ihren Ehemann, der für eine begrenzte Phase seines Lebens zum Trinker geworden war, auf dem Sofa mit Benzin überschüttet und anzündet. Auch das ist Amerika.

Man sollte sich aber – etwa als deutscher Leser – kein zu schnelles Bild von diesem Amerika machen. Donald Trump ist ein Demagoge, kein Exponent. Den Stellvertreter spielt er nur. Die alte, harte Frau ist auch eine Bürgerin im politischen Sinn des Wortes. Freilich eine bodenständige, unverwechselbare. Sie ist eine amerikanische Demokratin, wie der junge Mann, der inzwischen einen Job an der Kasse einer Drogerie angenommen hat – nicht der schlechteste Ort, etwas von der Spaltung der Gesellschaft mitzubekommen, im Gespräch mit seiner Großmutter erkundet und erfährt:

„In her more compassionate moments, Mamaw asked if it made sense that our society could afford aircraft-carriers but not drug treatment facilities – like Mom’s – for every one. Sometimes she’d criticize the faceless rich, whom she saw as too unwilling to carry their fair share of the social burden. Mamaw saw every ballot failure of the local school improvement tax (and there were many) as an indictment of our society’s failure to provide a quality education to kids like me. Mamaw’s sometimes occupied wildly different parts of the political spectrum. Depending on her mood, Mamaw was a radical conservative or a European-style social Democrat. Because of this, I initially assumed that Mamaw was an unreformed simpleton and that as soon as she opened her mouth about policy or politics, I might as well as close my ears. Yes I quickly realized that in Mamaw’s contradictions lay great wisdom. I had spent so long just surviving my world, but now that I had a little space to observe it, I began to see the world as Mamaw did. I was scared, confused, angry, and heartbroken. I’d blame large business for closing up shop and moving overseas, and then I’d wonder if I might have done the same thing. I’d curse our government for not helping enough, and then I’d wonder if, in its attempts to help, it actually made the problem worse.“

Ernst Köhler