Armenien: Völkermord, das darf man sagen

Weltweit erkennen die meisten Historiker die Massaker an den Armeniern 1915/16 in der Türkei als Völkermord an. So auch der deut­sche Bundestag in seiner Resolution vom 2.6.2016. Man darf die Vertreibungen, Todesmärsche und Deportationen, der nach Schätzungen bis zu 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen, durchaus als Völkermord bezeichnen. Darum ging es in einer Podiums­diskussion letzte Woche im Konstanzer Landratsamt.

Wer in der heutigen Türkei „Völkermord“ sagt, wird jedoch als Volksverräter beschimpft und ist an Leib und Leben gefährdet. Und nicht nur in der Türkei: Mitglieder des deutschen Bundestags wurden vielfach bedroht. Auch Landrat Hämmerle ließ durchblicken, er habe als Veranstalter noch nie derart viele verbale Angriffe erleben müssen.

Bei der Podiumsdiskussion im Landratsamt am 16.2.2016, mit dem seltsamen Titel „Genozid an den Armeniern – darf man das sagen?“, trafen drei hochkarätige DiskutantInnen auf einen vom türkischen Generalkonsulat Karlsruhe entsandten Propagandisten. Dennoch verlief der Abend im übervollen Sitzungssaal des Landratsamtes friedlich und lieferte Erkenntnisse, nicht zuletzt auch dank der unzimperlichen und souveränen Moderation durch SK-Redakteur Dieter Löffler.

Aleida Assmann (mit Wissenschaftspreisen überhäufte Kulturwissenschaftlerin): Die Massentötungen an den Armeniern dienten Hitler als Vorlage für den Holocaust, beeinflussten aber auch die Formulierung der Völkermord-Konvention der Vereinten Nationen. Durchführung und Aufarbeitung der beiden Völkermorde verliefen jedoch völlig unterschiedlich, so dass sich eine Gleichsetzung verbietet. Staaten können (und müssen) zur Aufarbeitung der eigenen Geschichte die Rahmenbedingungen setzen, wie in Deutschland beispielsweise durch den Beschluss zum Holocaust-Denkmal oder die Festlegung des 27. Januar zum Gedenktag für die Opfer des Holocaust. Die eigentliche Aufarbeitung muss aber durch die Zivilgesellschaft erfolgen: Regierungen sind (macht-)politisch befangen, wie sich auch am Verhalten deutscher Regierungsstellen bei der Armenien-Resolution des Bundestages zeigte. Die Zivilgesellschaft entscheidet letztlich, ob weggeschaut und verdrängt wird, oder ob Zuschauer zu Zeugen werden. Die offizielle türkische Sicht ist nicht von Menschenrechten geprägt, sondern von Begriffen wie Ehre, Nation, Heldentum.

Raffi Kantian (linkes Foto): Die Türkei und Armenien haben eine gemeinsame Grenze. Die offizielle türkische Haltung mit ihrer Verharmlosung der Massenmorde belastet die Beziehungen außerordentlich. So stehe noch heute (2014) in türkischen Schulgeschichtsbüchern, es seien nur solche Armenier deportiert worden, die von anderen bedroht wurden. Sie seien zu ihrem eigenen Schutz – und damit sie nicht von radikalen Armeniern fanatisiert würden – gerettet und in fruchtbare Gebiete mit Wasser und guten Böden gebracht worden ( = syrische Wüste). Alle seien gut behandelt worden, und Verstöße dagegen seien stets streng bestraft worden.

Diese Haltung ist aber nicht „die türkische Sicht“. Beispielsweise haben sich rund 30 000 türkische Intellektuelle öffentlich in einer Internet-Resolution für die Verbrechen an den Armeniern entschuldigt. Die Massaker, Massenvertreibungen und andere Grausamkeit sind mittlerweile so gründlich und umfassend dokumentiert, dass Leugnung nur als „postfaktisch“ bezeichnet werden kann.

Seyhan Bayraktar (Genozid-Forscherin): Unter Historikern herrscht mittlerweile große Einigkeit darüber, dass die Verteibungen 1915/16 als Genozid anzusehen sind. Man beschäftigt sich nicht mehr mit dem „Ob“, sondern mit dem „Wie“. Seit den 1970er Jahren öffnete sich die Debatte auch in der Türkei, auch im Zusammenhang mit der Annäherung der Türkei an die EU. Die Leugnung oder Verharmlosung der Vorgänge kommt einer Komplizenschaft gleich. Die europäischen Großmächte tragen deshalb eine Mitschuld. Die offeneren Debatten in der Türkei hätten die Möglichkeit zu Klärung und Aufarbeitung geboten, 2005 war der 90. Jahrestag des Genozids. Das politische Europa – und gerade auch Deutschland, das seinerzeit durch Wegschauen aus politischen Gründen eine Mitschuld trug – hätte durch klarere Worte an die Adresse der türkischen Regierung die Aufarbeitung der Verbrechen befördern können. Das wurde aus (macht-)politischen Gründen versäumt. Jetzt ist die Aussöhnung wesentlich schwerer.

Der Propagandist (Ali Söylemezoğlu, rechtes Foto): Es war kein Vökermord: Plan und Absicht sind nicht nachweisbar, und es habe keinen Vernichtungswillen gegeben. Vielmehr habe die türkische Regierung Waisenkinder gerettet, viel für die Rettung von Kulturgütern getan und Nahrung und Kleidung verteilt. Unbestritten seien 100 000e getötet worden, aber „mehr Moslems als Christen“. Unveröffentlichte Geheimdokumente würden das alles belegen.

Zuhörerfrage: „In der Ausstellung im Erdgeschoss ist dokumentiert, dass in Anatolien mindestens noch 125 (armenische) Kirchen in Ruinen liegen. Wer hat die denn zerstört?“
Propagandisten-Antwort: „In Istanbul gibt es 40 armenische Kirchen. In Anatolien wurde 1 Kirche renoviert.“ (Ende der Antwort).

Moderator-Frage (nach Beschwerden des Propagandisten, er sei auf dem Podium in der Minderheit): „Gibt es in der Türkei Podiumsdiskussionen zum Thema mit Armeniern?“
Propagandisten-Antwort: „ …. mh, mh, äh, äh … Nein.“

Der Schreiber dieser Zeilen gesteht, dass ihn beim Anhören des Propagadisten mehrfach heftige Zensurgelüste befielen. Siehe dazu auch den Brief von Ilias Uyar.

Maik Schluroff

Wer noch Zweifel hat, ob man „Völkermord“ sagen darf, hier einige Quellenhinweise:
https://de.wikipedia.org/wiki/Völkermord_an_den_Armeniern
http://www.geo.de/magazine/geo-epoche/3373-rtkl-ein-verleugnetes-verbrechen
http://www.spiegel.de/politik/ausland/voelkermord-an-den-armeniern-geschichte-des-grauens-a-1095444.html
https://haypressnews.wordpress.com/2012/05/01/wikileaks-turkische-archive-wurden-bezuglich-des-genozids-an-den-armeniern-gereinigt/
http://www.anerkennung-jetzt.de/
https://www.voelkermordkonvention.de/voelkermord-eine-definition-9158/