Der „Q-Kandidat“: Eine „Katze im Sack“

Sind wir denn jetzt wirklich allesamt „Schulz“? Irgendwie wirkt der Wahlkampf zur Bundestagswahl schon nach kurzer Zeit richtig merkwürdig. Diejenige, die ihr Amt verteidigen soll, ist in den letzten Wochen noch stiller geworden als ohnehin schon. Sie drückt sich vor klaren Aussagen, lädt die Verantwortung plötzlich auf den kommunalen Behörden ab und lässt Deutschland mit seinen „Nazi-Praktiken“ weiter durch den türkischen Staatschef beschimpfen, ohne auch nur einen Hauch an Widerspruch von sich hören zu lassen.

Und gleichzeitig scheinen viele junge Menschen aufgrund eines auch nicht sonderlich lebhafteren Spitzenkandidaten der SPD vollends in Rage, als wäre ein Idol aus den 90ern wieder zurückgekehrt. Dabei ist es „nur“ ein ehemaliger EU-Parlamentspräsident, der schon mit seiner Persönlichkeit zu überzeugen schien, ohne etwas gesagt zu haben. Immerhin wurde er Sigmar Gabriel einfach so vorgezogen, wenngleich man bereits im Vorfeld um die Beliebtheitswerte wusste – und damit deutlich war: Gewinnen kann man mit allen, nur nicht mit dem Parteichef. Und obwohl Schulz nun lange nicht in der Innenpolitik aktiv gewesen ist, sind offenbar nicht nur die SPD-Anhänger der Meinung, er könnte durchaus den nächsten Kanzler der Bundesrepublik geben.

Wechselstimmung?

Möglicherweise ist das auch nach zwölf Jahren einer Amtsinhaberin, die sich zweifelsohne durch ihre Ruhe stets einen großen Verdienst erworben und damit manche Krise durch- und ausgestanden hat, gar nicht mehr so schwer. Denn eine gewisse Wechselstimmung ist zu spüren in diesem Land, das einerseits wohl so gut wie kaum ein anderes in der EU dasteht, andererseits aber viele seiner Probleme durch das Schweigen seiner Kanzlerin einfach nur weit von sich schiebt. Gerade deshalb setzen viele Bürger wohl in eine neue Führung, und sei es auch nur eine minimale Veränderung, die sich ergeben möge. Denn der große Wahlslogan von einer „sozialen Gerechtigkeit“, er hat sich abgenutzt – und dürfte für den Wähler auch bei Martin Schulz wieder einmal das Sprichwort über die Katze im Sack bestätigen.

Da wird dieser Tage der neueste Armutsbericht veröffentlicht. Wie seit Jahren scheint er für einen Moment zumindest doch eine Meldung in den Nachrichten wert. Anschließend aber kehrte die Politik auch dieses Mal in ihren Alltag zurück, als sei nichts gewesen. Mit denen am untersten Rand, da kann man keine Wahl gewinnen. Diese Strategie verfolgten schon viele Parteien – und vielleicht haben sie auch recht. Denn wer nichts hat, der kann sich auch kaum eine Lobby leisten, die für die Rechte der eigenen Klientel vorspricht. Immerhin muss man auf die Zeit in der Regierung vorausblicken – auf die, die dieses Land und die finanzielle Stabilität der eigenen Partei noch tragen können. Und das werden nicht die sein, die kein Geld haben. Und auch nicht die, die zu schwach sind, um ihre Grundrechte gegen eine Politik durchzusetzen, die immer höhere Hürden für das Einfordern von Würde und Integrität als ganz selbstverständlich ansieht.

Funktionieren, bis man umfällt

Und so hat sich Martin Schulz auch wohl überlegt jene ausgesucht, die „vorzeigbar“ sind: Denn es sollen die motivierten und vitalen 55-Jährigen sein, die bereits sind, sich auch im höheren Alter noch weiterbilden zu lassen, um dann mit knapp 60 nochmals neu anzufangen. Funktionieren, bis man umfällt. Nach dem schönen Motto: Nur, wenn du dich von uns auch wiederbeleben lassen willst, erhältst du ein bisschen mehr aus dem Rententopf. Ist das sozialdemokratische Politik? Ja, es ist die SPD der 2000er-Jahre. Eine „Weiterentwicklung“ dieser unsäglichen „Agenda 2010“, die sich mehr denn je anbiedert an eine neoliberale Denkweise. Schließlich grenzt ja Schulz selbst die wohlklingenden Worte der „Solidarität“ auf die der „Leistungsgerechtigkeit“ ein. Keine Spur von der Überzeugung, wonach Menschen zunächst einen Anspruch auf ein existenzielles Dasein haben – ohne getriezt zu werden.

Es sind nicht die, die heute „Arbeitslosengeld I“ beziehen, die eine Verlängerung ihrer Bezugsdauer bedürfen, um nachher „Q“ zu werden. Es sind Menschen, für die in einem reichen Deutschland „Tafeln“ nötig wurden, damit sie überleben können, für die sich jemand einsetzt, der auf seine Fahnen etwas von „Gerechtigkeit“ schreibt. Nein, Schulz merzt keine „Fehler“ aus, wie er es sagt. Er forciert die „Hartz“-Politik viel eher, weil er die Schrauben dort noch lockert, wo sie vergleichsweise ohnehin nicht sonderlich festgezurrt waren. Nichts von einer Abschaffung der Gängelung, der letztens erst wieder gestiegenen Zahl an Sanktionen für „ALG II“-Empfänger. Trotz Milliarden an Überschüssen keine Investitionen dort, wo der Sockel an Armut sich immer weiter verfestigt, bei der Sozialhilfe, bei Erwerbsminderung, im Alter, für die Pflege.

Kurskorrektur?

Schulz scheint nicht auf einen Wandel in Deutschland hinzuarbeiten. Allerhöchstens auf eine Neuauflage der „Großen Koalition“ unter seiner Kanzlerschaft. Denn mit seinen mickrigen Ansagen bislang lässt er überhaupt nichts von einer Kurskorrektur erkennen, die nötig wäre, um der SPD substantielle Glaubwürdigkeit zurückzugeben. Umfragewerte sind tatsächlich nur ein Bild des momentanen Augenblickes. Da fließt das frische Gesicht eines Politikers ein, den man bislang nur ab und zu aus dem fernen Brüssel her gekannt hat. Da spielt der Überdruss über eine kaum enden wollende Legislatur unter Frau Merkel eine große Rolle, die die Probleme mittlerweile eher über sich ergehen lässt, statt ihnen auch aktiv entgegenzutreten. Und da ist es offenbar der doch bescheiden gewordene und minimalistisch erscheinende Anspruch der Deutschen, es möge überhaupt etwas passieren in unserem Land.

Für all jene in prekären Lebenslagen – und es werden trotz Gewinnen in der staatlichen Kasse immer mehr von ihnen – sind die Nachrichten eher schlecht. Von Vermögenssteuern bis zur Bekämpfung der Steuerflucht, von der Abschöpfung irrationaler Aktiengewinne bis zur Deckelung übertriebener Unternehmensgewinne und eben diesen Managergehältern – von Martin Schulz werden solche Botschaften nur am Rande gestreift werden. Bisher ist nicht erkennbar, dass er sich glaubhaft von der Politik der SPD aus den vergangenen 10 Jahren abgrenzen will, die auch zu diesem Gefühl des „Einheitsbreis“ in Deutschland beigetragen hat. Und selbst, wenn manche Schlagworte fallen werden – ob sie umgesetzt würden, hängt auch von der nächsten Koalition ab. Sollte im linken Spektrum die Bereitschaft zu Kompromissen bestehen, wäre solch ein Modell erstmalig auf Bundesebene sicherlich einen Versuch wert. Mehr Stillstand als jetzt kann es auch kaum geben.

Dennis Riehle