Wer zuschaut, macht sich mitschuldig

Auf großes Interesse stieß vergangenen Mittwoch die Veranstaltung im Konstanzer Kulturzentrum zur aktuellen Lage in der Türkei. Rund 70 Leute verfolgten die Ausführungen von Gökay Akbulut und Serdar Derventli über die Auseinandersetzungen um das Referendum, mit dem sich Staats­präsident Erdoğan am 16.4. die Zustimmung für Verfassungsänderungen holen will, die weitreichende Konsequenzen hätten.

„Die Gewaltenteilung, Eckpfeiler jeder Demokratie, wird damit ausgehebelt“, kritisierte die Linke-Politikerin Akbulut. In ihrem Vortrag skizzierte die Mannheimerin mit kurdisch-alevitischen Wurzeln die politische Geschichte der modernen Türkei, in der demokratische Errungenschaften immer wieder unter Druck geraten seien, so als 1980 das Militär die Macht übernahm. Der gescheiterte Putsch im letzten Sommer habe Erdoğan und seiner AKP-Regierung nun den Vorwand zum Generalangriff auf das fragile demokratische Gefüge geliefert.

Krieg gegen die Kurden

Akbulut machte in diesem Zusammenhang vor allem auch auf den unerklärten Krieg aufmerksam, den der Staatspräsident schon vor dem Putschversuch im Sommer 2015 im Südosten begonnen hat. Der Abbruch der Friedensverhandlungen mit der PKK sei gleichbedeutend mit einer „Kriegserklärung gegen die KurdInnen“ gewesen, die darauf abzielte, bei den Wahlen die prokurdische HDP entscheidend zu schwächen. Seitdem sei es zu „Massakern in Cizre, Silopi, Diyabarkir“ gekommen, türkisches Militär habe ganze Städte zerstört, hunderttausende Menschen vertrieben und bis zu 2000 getötet.

Mit seinem Referendum wolle Erdoğan jetzt einen weiteren, entscheidenden Schritt in Richtung Diktatur unternehmen. Das von seinen Parteigängern ins Feld geführte Argument, auch in anderen Ländern wie beispielsweise den USA oder Frankreich bestünden Präsidialsysteme, wies Akbulut zurück. Abgesehen davon, wie man solche bürgerlich-parlamentarischen Verfassungsformen bewerte, gebe es beispielsweise in den Vereinigten Staaten den vielzitierten „Check of Balance“, also Kontrollmöglichkeiten parlamentarischer Institutionen, die Alleingänge des Präsidenten verhinderten.

In Erdoğans Präsidialverfassung hingegen hätte das Parlament keinerlei Kontrollbefugnisse mehr gegenüber dem Präsidenten, so könne dieser Minister und höhere Beamte berufen, die bislang von der Volksvertretung gewählt werden. Weder der Präsident noch seine Regierung unterlägen einer Rechenschaftspflicht gegenüber den gewählten Abgeordneten, von der Vertrauensfrage ganz zu schweigen. Zudem schaffe die Verfassungsänderung weitgehende Möglichkeiten, mit vom Staatspräsidenten erlassenen Verordnungen, denen Gesetzeskraft zugesprochen wird, nach Gusto zu regieren. Damit nicht genug: Erdoğan könnte nach einem Ja zur Verfassungsänderung jederzeit den Ausnahmezustand ausrufen und diesen beliebig oft verlängern, wenn es ihm beliebt gleich für eine ganze Regierungsperiode. Nur einige Beispiele, so Akbulut, die zeigten, dass der autokratische Staatschef beabsichtige, eine Präsidialdiktatur einzurichten.

Tausende im Knast

Eine Einschätzung, der auch der türkische Journalist Serdar Derventli zustimmte. Für das Nein-Lager gehe es darum zu verhindern, dass „eine schlechte Verfassung noch schlechter gemacht“ werde, sagte der Chefredakteur der türkisch-deutschen Zeitung „Neues Leben“. Beide berichteten von systematischen Repressionen und Einschüchterungsversuchen gegen Referendumsgegner. Tausende säßen im Knast, darunter viele Journalisten und die Spitze der prokurdischen Partei HDP.

Dass Erdoğans Politik bei vielen TürkInnen trotzdem auf Zustimmung stößt, habe vor allem damit zu tun, dass er auf die nationale Karte setze. Viele fühlten sich durch die Vertröstungspolitik der europäischen Länder in Sachen EU-Beitritt zurückgesetzt. Da komme das verbale Säbelrasseln Erdoğans gegenüber Berlin gut an. Mit Blick auf die hohe Sympathiewerte für Erdoğans AKP in Deutschland sagte Derventli, es sei nicht verwunderlich, dass Menschen, denen man seit Jahrzehnten etwa das Wahlrecht verweigere, besonders anfällig für Erdoğans türkischen Nationalismus seien.

Der deutschen Türkei-Politik stellte Gökay Akbulut ein miserables Zeugnis aus. Vor allem der Flüchtlingsdeal habe die Bundesregierung erpressbar gemacht, diese Karte spiele Erdoğan jetzt gezielt aus. Damit müsse endlich Schluss sein: Die Linke, so Akbulut, fordert von der Bundesregierung die Einstellung aller Zahlungen an die Türkei in Folge der noch immer laufenden EU-Beitrittsverhandlungen und des Flüchtlingsdeals, den Stopp von Rüstungsexporten und ein Ende der militärischen Zusammenarbeit. Akbulut: „Wer der Schaffung einer Diktatur zuschaut, der macht sich mitschuldig“.

jüg