Gemeinderat: Wie die Hühner auf der Stange

Der Gemeinderat hat eine neue Sitzordnung. Wen kümmert’s, möchte man meinen. Aber in der Politik ist nichts, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, schon gar nicht, wenn es auf Veranlassung von Oberbürgermeister Uli Burchardt geschieht. Selbst hinter den unscheinbarsten Änderungen des Konstanzer Stadthäuptlings lauert der unerbittliche Kampf um mehr Macht …

Ein sichtlich empörter Peter Müller-Neff (FGL) versuchte am letzten Donnerstag schon bald nach Beginn der Gemeinderatssitzung, Gehör bei der Obrigkeit zu finden. Grund seiner Aufregung war die neue Sitzordnung im Ratssaal, die in der Tat für Gemeinderätinnen und -räte ebenso gewöhnungsbedürftig ist wie für das Publikum. (Dass auch die Presse auf ihrer Bank dabei deutlich weniger vom Geschehen zu sehen bekommt als bisher, mag sicher noch am ehesten zu verschmerzen sein.) Aber Oberbürgermeister Uli Burchardt vertröstete den grünen Kämpen, die Debatte über die Sitzordnung werde später einmal geführt.

Was ist los?

Im Ratssaal gab es auf Veranlassung des OBs ein großes Stühlerücken. Bisher war die Sitzordnung im Wesentlichen ein Hufeisen. Dabei saßen der Oberbürgermeister, die Bürgermeister Karl Langensteiner-Schönborn und Andreas Osner und je nach Tagesordnungspunkt noch einige andere Menschen an der schmalen Seite des Hufeisens. Die Gemeinderätinnen und -räte besetzten die langen Schenkel, an denen die Tische zweireihig aufgebaut waren.

Das verstehen Sie nicht? Macht nichts: Dafür gibt es ja die folgende ungelenke Skizze, in der aus zeichnerischer Unfähigkeit allerdings ein paar Säulen und ein Rednerpult fehlen („Wer Renoir nicht werden kann, der streicht getrost die Wände an,“ weiß schon der Volksmund.):

[Die Pfeile und die Beschriftungen verdeutlichen die Blickrichtungen. – CDU, FWK, JFK und FDP stehen aber auch deshalb auf dem Kopf, weil Marx nur den Hegel, nicht aber auch das ganze sonstige bürgerliche Gelichter vom Kopf auf die Füße gestellt hat.]

Man sieht unschwer: Diese Sitzordnung ermöglicht ein Maximum an Blickkontakt. Man/frau redet mit- und gegeneinander, den Blick fest auf das Weiße im Auge der politisch Anderen gerichtet. Auch das Publikum kann in den meisten Fällen sehen, wer gerade spricht, und sich an den Gesichtern der VolksvertreterInnen und Verwaltungsmenschen ergötzen – und umgekehrt. Die RätInnen können sich innerhalb Ihrer Fraktionen spontan mit ihren Vorder- bzw. Hintersassen austauschen.

Kurzum: Hier herrscht Offenheit untereinander, und das Volk kann der Obrigkeit auch noch beim Regieren zugucken. Ein relativ demokratisches Konzept, ein bisschen wie im englischen Unterhaus.

Und nun?

Am letzten Donnerstag aber standen die Tische anders. Dem Oberbürgermeister schlug Kritik in überraschender Schärfe entgegen, denn die RätInnen fühlten sich in ihre Grundschulzeit zurückversetzt.

[An dem Kopfstand sämtlicher GemeinderätInnen erkennen Sie den Unterschied zur vorherigen Skizze. Alle Volksvertreterinnen sind jetzt zu Schlangen degradiert worden, die auf die paar Kaninchen vorn/oben starren müssen. Das Volk kann der Presse nun einschüchternde Seitenblicke zuwerfen.]

Uli Burchardt als Lehrer und Zuchtmeister sitzt in dieser neuen Ordnung vorn mit einem mehr oder weniger strengen Blick auf die Volksvertreter – er hat sie alle im Blick, und auch die Verwaltungsbank kann an seinen Lippen hängen. Vorbei die glücklichen Zeiten, als gestandene Handwerksmeister unbemerkt von der Obrigkeit die Tischplatten von unten kunstvoll mit ihren Popeln bepflasterten oder während der Sitzungen interessiert in Sanitärkatalogen lasen, in denen sie den „Playboy“ oder das „Kommunistische Manifest“ versteckt hatten, weil beides daheim strikt verboten war.

Was bringt die neue Sitzordnung?

Die Änderung der Sitzordnung ist im Ältestenrat zwischen dem OB und den Fraktionsvorsitzenden besprochen worden. Die neue Sitzordnung soll jetzt erst mal ausprobiert werden. Der Oberbürgermeister machte allerdings klar, dass es mit ihm eine Rückkehr zur alten Sitzordnung nicht geben wird. Er werde sich dann notfalls etwas anderes einfallen lassen. So etwas wie das bisherige doppelte Hufeisen gebe es nirgendwo und sei nach seiner Meinung auch die schlechteste aller Lösungen. Die Frage ist: Wer hat über die Sitzordnung zu befinden? Allein der Oberbürgermeister, wie dieser andeutete? Was macht das Hufeisen in seinen Augen so schlecht?

Uli Burchardt argumentiert für die neue Sitzordnung:

Der Ratssaal wird oft auch für andere Zwecke genutzt, da sei das Hufeisen im Wege. Man könne den Saal nicht jedes Mal umräumen, weil es dafür kein Personal gebe und das Mobiliar viel zu schwer sei. [An dieser Stelle ein halblauter, sichtlich genervter Zwischenruf aus dem Publikum: „Die regen sich ja mehr über ihre Sessel auf als über die Abschiebungen nach Afghanistan! Da sterben Leute, aber die hier …“]

Es stimmt: Das Mobiliar ist wirklich sauschwer, das räumt man nicht mal so nebenher um. Allerdings zieht Uli Burchardts Argument mit dem anderweitigen Gebrauch des Saales nur dann, wenn diese neue Sitzordnung auch für all die anderen Nutzungen ideal wäre. Es steht aber zu vermuten, dass jede dieser anderen Nutzungen (Empfänge, Meetings, Preisverleihungen usw.) einen jeweils ganz eigenen Aufbau benötigt. Bei Empfängen braucht es sicher mehr Freifläche, als sie der mit Mobiliar zugestellte Ratssaal bietet, man muss also ohnehin ausräumen. Damit wäre Burchardts Argument hinfällig. Wobei man sich auch fragen mag, ob die Ratssitzungen nicht bedeutender sind als irgendwelche anderen Veranstaltungen im Ratssaal, so dass die anderen Veranstaltungen sich der Bestuhlung der Ratssitzungen anzupassen haben.

Auf den – völlig berechtigten – Einwand einer emotional wie rhetorisch stets sehr engagierten Bürgerin hin, sie könne jetzt von den Publikumsbänken aus die Gesichter der Gemeinderätinnen und -räte nicht mehr sehen, antwortete der OB ganz offenherzig, es gehe ja auch nicht darum, dass das Volk im Ratssaal gut sehe, sondern dass der OB gut sehe. Der Mann verfügt über ein robustes Selbstverständnis von Bürgerbeteiligung.

Der Rat murrt

Die Gemeinderätinnen und -räte jedenfalls scheinen mit der jetzigen Lösung mehrheitlich unzufrieden zu sein. Sie sehen nunmehr Freund wie Feind nicht mehr von vorn oder von der Seite, sondern zumeist von hinten. Heinrich Everke (FDP) kann sich für die neue Sitzordnung nicht erwärmen: „Wir FDPLER sind nicht einverstanden mit der neuen Sitzordnung. Wir haben sie gerne mal ausprobiert, aber sie funktioniert nicht.“ Anselm Venedey (FWK) ergänzt bedauernd: „Wir wollen in den Sitzungen ja nicht in erster Linie die Verwaltung, sondern die anderen Rätinnen und Räte überzeugen. Da ist es wenig hilfreich, wenn diese einem den Rücken zuwenden. So kann man keine Reaktionen auf den eigenen Beitrag erkennen.“

Auch Anke Schwede (LLK) und Peter Müller-Neff beklagen einmütig, dass durch die neue Sitzordnung der Austausch zwischen den RätInnen durch Augenkontakt, Zurufe etc. erschwert wird. Schließlich sind auch Gestik und Mimik gerade unter RätInnen, die meist über viele Jahre miteinander zu tun haben und sich daher ganz gut kennen, wichtige Kommunikationsmittel. Man stelle sich nur einmal Roger Tscheulins (CDU) gekonntes Genuschel vor, während man sein professionelles Pokerface nur von hinten sieht – das ist nicht mal der halbe Spaß. Auch Jürgen Puchta (SPD) vermisst nicht nur den bisherigen Blickkontakt zum politischen Gegner auf der anderen Seite des Saales, sondern auch eine demokratische Vorentscheidung über die Sitzordnung. Es gab nach seinen Angaben zwar eine kurze Besprechung dieses Themas im Ältestenrat, aber etwa die Zuweisung der Plätze an die einzelnen Fraktionen habe der OB vollkommen willkürlich und ohne Rücksprache vorgenommen. Außerdem bemängelt Puchta wie viele andere, dass es bei der Verteilung einer Fraktion auf mehr als zwei Reihen kaum mehr möglich ist, sich untereinander abzustimmen. „Das ist wieder einmal eine typische OB-Geschichte, der will das unbedingt durchziehen,“ resümiert er.

Die neue Sitzordnung schafft mit ihren vier statt zwei Reihen auch ein gänzlich neues Empfinden, und das ist kein Genuss: Während bisher alle etwa gleich nah am Geschehen saßen, kommt jetzt bei manchem/r in der dritten oder vierten Reihe ein echtes Hinterbänklergefühl auf: „Bei ARD und ZDF sitzen wir in der ersten Reihe, im Konstanzer Gemeinderat nicht mehr.“

Was soll das?

Am besten bekommt man eine Vorstellung von Sinn und Zweck dieser Sitzordnung, wenn man sich in Erinnerung ruft, wie Uli Burchardt seine Zeit einmal begonnen hat, und zwar im September 2012 [!]. Kaum jemand weiß es noch, aber Uli Burchardt meinte es damals wohl ernst mit der Kooperation im Rat – und probierte eine neue Sitzordnung aus. Er wollte wie König Artus im Viereck sitzen, um einen Kreis gleichberechtigt Debattierender zu schaffen – und bezog auch dafür Prügel, unter anderem auf seemoz: Dieses Modell schloss das Volk aus. Burchardts politisches Anliegen damals war Dialog auf Augenhöhe, die Plebs interessierte ihn nicht. Das ging so:

Till Seiler (FGL), seines Zeichens Pädagoge, schreibt auf der Website der FGL: „Seit vielen Jahren versucht man in der Schule bessere Kommunikation durch eine Sitzordnung zu erreichen, bei der sich die Schüler anschauen können, einen Kreis oder eine U-Form zum Beispiel.“ Das hatte Uli Burchardt damals mit dieser Sitzordnung geplant. Sie hatte allerdings einen wesentlichen Nachteil: Das Volk blieb weitgehend abgeschottet.

Natürlich hinkt der Vergleich zwischen dem Gemeinderat und einer Schulklasse. In der Schule hat der Lehrer das Sagen, im Gemeinderat haben es (eigentlich) die Gemeinderätinnen und -räte, und der OB ist formal nichts weiter als deren oberster Knecht. Er hat zu tun, was sie beschließen und darf ihnen fußfälligst Vorschläge zur Abstimmung vorlegen.

In anderer Hinsicht stimmt der Vergleich mit der Schulklasse aber doch: Der OB und die anderen Verwaltungsmenschen haben einen immensen Wissensvorsprung gegenüber den Ratsfrauen und -herren. Sie sind hauptberuflich unterwegs und haben ihr Fach (Städtebau, Sozialwesen, Finanzen etc.) zum Teil sogar studiert, während die ParlamentarierInnen Amateure sind, die auch noch auf sämtlichen Gebieten entscheiden sollen.

In diesem Sinne soll sich Burchardt auch nichtöffentlich gegenüber dem Gemeinderat geäußert haben, verlautet aus der grünen Ecke: Er sei der Fachmann, und dieser Haufen von Laien solle am Ende seine Vorschläge abwinken, der Gemeinderat als Verwaltungsorgan habe in seinen Augen reine Vollzugsaufgaben. Das ist die übliche Argumentation von Technokraten, die sich für sachlich und nicht für politisch motiviert halten. Uli Burchardt wollte früher mehr Dialog, heute will er mehr Macht, weil er der Fachmann ist. Aber Demokratie ist nun mal anstrengend. Die rein sachliche Entscheidung ist eine Illusion, es geht immer auch um politische und damit um Interessenskonflikte. Niemand kann frei von Ideologie sein.

Ein Blick auf die drei verschiedenen Sitzordnungen zeigt: Uli Burchardt ist einmal mit der löblichen Absicht angetreten, alle RätInnen einzubeziehen. Das von ihm ausprobierte Viereck war Ausdruck eines Strebens nach Gleichheit. Das hergebrachte Hufeisen kommt auch noch nahe dran.

Die in der letzten Sitzung getestete Sitzordnung, die auf Uli Burchardts Mist gewachsen ist, zeigt hingegen eine verdammte Ähnlichkeit mit gewissen anderen Grundrissen. Denken Sie mal an die Anlage von Versailles oder von Karlsruhe oder der Herrenhäuser Gärten. Fällt Ihnen etwas auf?

Auch im Konstanzer Gemeinderat gibt es mit dem neuen Modell für alle eine neue Hauptsichtachse. Und die läuft nur auf einen zu: Den Sonnenkönig. Die Stadt bin ich. Das sehen ziemlich viele VolksvertreterInnen anders.

Bei Wilhelm Busch endet diese Episode mit einem Streich von Max und Moritz:

Nun war dieser brave Lehrer
Von dem Tobak ein Verehrer,
Was man ohne alle Frage
Nach des Tages Müh und Plage
Einem wackeren Tyrann
Auch von Herzen gönnen kann.

 

O. Pugliese