Erasmus wird 30

Das Erasmus-Programm, 1987 ins Leben gerufen, ist ein Förderprogramm der Europäischen Union. Es gilt weltweit als das größte seiner Art für Auslandsaufenthalte an Universitäten. Unser Autor, der trotz aller Widrigkeiten überzeugt ist von der europäischen Idee, erinnert sich an seine Erasmus-Zeit und weist jetzt schon auf eine Geburtstagsfeier hin, die am 1. Juli in Konstanz stattfinden wird.

Im März 1992 hatte ich die Nase voll. Ich wollte nur weg. Weit weg. Und lang. Nicht mehr nachdenken über die ostwestfälische Provinz, in der ich geboren und in der ich – nolens volens – auch für’s Studium an der Universität-Gesamthochschule Paderborn hängengeblieben war.

Wahrscheinlich nicht untypisch für einen Studenten jener Jahre – zumal einen, der lieber Theater machen wollte als im Hörsaal sitzen -, habe ich mich umgehört. Da gibt es Möglichkeiten ins Ausland zu gehen; Dr. Nehm aus der Anglistik wäre ein Ansprechpartner. Ulrich Nehm empfing mich freundlich, lachte über den Querstand von hoher Motivation und nicht vorhandener Organisation eines möglichen Auslandsaufenthalts und eröffnete mir, dass es da seit fünf Jahren ein Programm der EU gäbe. Das hieße „Erasmus“ und da gäbe es noch zwei freie Plätze, beide in Irland. Einer sei in Limerick für ein halbes Jahr. Nein, nein, nein – das ist zu kurz! Na, dann gäbe es noch die Möglichkeit, nach Nordirland zu gehen, nach Coleraine – für 10 Monate. Ja, das hörte sich besser an. Der irisch-irische Bürgerkrieg schreckte meine Eltern, aber nicht mich.

Mit dem Argument, da würde man doch niemanden hinschicken, wenn das wirklich gefährlich wäre, flog ich im September nach Belfast. Von dort ging es mit dem Bus weiter nach Coleraine. Ich war kaum eine Woche dort, da exlodierte eine Lastwagenbombe in der Fußgängerzone. Tote und Verletzte gab es keine, wohl aber erheblichen Sachschaden. Ich beruhigte die Eltern am Telefon, setzte mich in den Bus und erwarb im „bomb sale“ eines ziemlich zerstörten Ladens eine schwarze Nietenlederjacke und ochsenblutrote 10-Loch-Doc-Martens. Jetzt sah ich aus wie alle anderen Studierenden: ich war angekommen.

Europa wurde in der Vergangenheit oft gleichgesetzt mit krummen-Gurken-Verordnungen und unverständlicher Brüsseler Bürokratie. Heute bröselt die Europäische Union an allen Ecken und Enden: die politische Fahrlässigkeit, den sogenannten ‚Finanzmärkten‘ große ökonomische und damit auch politische Macht einzuräumen, führte zum angeblichen Staatsbankrott Griechenlands, Großbritannien will allen Ernstes auf Basis eines ungeschickt und unnötig durchgeführten Referendums und mit den Stimmen der Alten die Union verlassen und riskiert dafür sogar den Zerfall des Vereinigten Königreichs, Polen und Ungarn fallen durch autokratische Regimes, die sich um Demokratie nicht mehr viel scheren auf, mit blauem Auge ging die französische Präsidentschaftswahl aus, gerade noch Marine Le Pen verhindernd. Man hätte also derzeit allen Grund, an Europa zu verzweifeln.

Aber gerade deshalb lohnt es sich, sich zu erinnern, warum es das europäische Projekt überhaupt gibt. Es lohnt, daran zu erinnern, wie Europa im Mai 1945 aussah, um festzuhalten an Europa.

„Nein“, sagte die Dame von der Schauspielagentur in Amsterdam auf die Frage eines herumreisenden deutschen Schauspielers nach einem Job, „für Wehrmachtssoldaten haben wir momentan keine Verwendung. Die Weltkriegserinnerungstage sind zu Ende.“ So etwas konnte noch vor vierzig Jahren einem Schauspieler aus Deutschland passieren. Heute ist diese Geschichte erklärungsbedürftig.

Am 1. Juli werden von 14 bis 18 Uhr im Wolkensteinsaal des Konstanzer Kulturzentrums am Münster 30 Menschen ihre persönlichen Geschichten und Erfahrungen mit und in Europa erzählen. Sie bringen Erinnerungsstücke mit. Ich werde meine Lederjacke aus dem nordirischen bomb sale dabei haben. Zwischendrin werden wir tanzen – denn Europa ist nicht einfach Brüssel. Europa: das sind wir alle. Wenn wir das wollen.

Albert Kümmel-Schnur