Unser Graf!

Antifaschist, Provinzschriftsteller, Anarchist, bayerisches Urviech – Oskar Maria Graf hatte viele Gesichter. Sein Verständnis für Menschen und Geschichte machen ihn zu einem der bedeutenden linken Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Hier ein Porträt dieses aussergewöhnlichen Autors zu seinem heutigen 50. Todestag.

Die politische Revolution nach dem Ersten Weltkrieg ging mit einer Revolution der Kunst einher, und genau der hatte sich 1920 die „Neue Bühne“ in München verschrieben. Der Dramaturg dieses Arbeitertheaters, der selbst vom Theater nicht die geringste Ahnung hatte, erhielt in dieser erregten Zeit eine Flut mediokrer Stücke von wichtigtuerischen Leuten, die sich unbedingt aufgeführt sehen wollten. Manchmal waren es so viele Manuskripte, dass der hinter den Briefkastenschlitz genagelte Sack die Eingangstür blockierte. Natürlich landeten die Zusendungen meist ungelesen auf einem Stapel.

Eines Tages fiel dem Dramaturgen ein Manuskriptpäckchen auf, das in Kleinbuchstaben adressiert war. „Die Schrift war sehr deutlich, aber man hatte den Eindruck, dass dieses brav anmutende Schulmäßige nichts anderes war als eine berechnete Manieriertheit. So pflegten Stefan-Georgeaner zu schreiben. Ich stellte mir also einen schon alt gewordenen Jünger dieses Dichters vor und warf das Manuskript zum Haufen in der Ecke.“

Einen Monat später kam ein „spitznasiger Mensch“ ins Büro, der „sehr unrasiert und betont proletarisch angezogen war, obgleich sein bebrilltes junges Gesicht eher an einen eben fertiggewordenen Lehramtskandidaten erinnerte. ‚Ich bin Bert Brecht‘, sagte er und fragte nach seinem Manuskript.“

Der Dramaturg kramte das Päckchen hervor, riss es auf und blätterte kurz im Manuskript von „Trommeln in der Nacht“, bis er auf das Personenverzeichnis stiess. „Das können wir nicht brauchen“, befand er.

Brecht schaute ihn an wie einen Idioten: „Sie haben es doch noch gar nicht gelesen“.
„Wissen Sie“, rettete sich der Dramaturg, „wir dürfen feuerpolizeilich immer bloß acht Personen auf der Bühne beschäftigen.“

„‚Oh, jetzt kapier‘ ich!‘ schloss Brecht mit einem gefrorenen Lächeln, denn richtig herzhaft lachen konnte er offenbar überhaupt nicht.“

So endete die erste Begegnung zwischen Bertolt Brecht und dem kurzzeitigen Theaterdramaturgen Oskar Maria Graf. Die beiden blieben sich trotzdem gewogen, und 1944 sollte Brecht dem Kollegen sein Gedicht „Die Bücherverbrennung“ widmen.

„Schändlich verprügelt und verwirrt“

Dass Graf einmal (für kurze Zeit) Theater machen würde, war ihm nicht in die Wiege gelegt. Er wurde 1894 in Berg am Starnberger See geboren, ging wenige Jahre zur Schule und musste nach dem Tod des Vaters 1906 in die Bäckerei der Familie eintreten. Das hieß: Aufstehen im Sommer um 21 Uhr, im Winter um 23 Uhr, die Nacht hindurch backen, 6 bis 12 Uhr Brot austragen, anschließend Konditorei, um 17 Uhr wieder ins Bett. Er hatte sehr unter der Tyrannei seines ältesten Bruders zu leiden, der beim Militär gewesen war und es seit dieser Zeit außerordentlich genoss, Schwächere zu demütigen und zu prügeln. Diese Erlebnisse wurden zum Ausgangspunkt für Grafs spätere politische Sozialisation.

Schließlich floh er 1911 aus seinem Heimatdorf nach München, schlug sich mal als Arbeiter, mal als Schnorrer durch und begann, expressionistische Gedichte zu verfassen. Dass er sich noch bis Mitte der zwanziger Jahre vor allem als Lyriker verstand, ist heute vergessen, kein Wunder, beschränkte sich sein damaliger „Ruhm“ doch auf Literaten und Bohèmiens der Schwabinger Szene. Der angehende Schriftsteller zog, notorisch klamm, trinkend durch München und Berlin und vagabundierte mit seinem langjährigen Freund, dem Maler Georg Schrimpf, ein halbes Jahr durch die Schweiz und Oberitalien. Zeitweilig hielt er sich in der Reformer-Kolonie Monte Veritá auf, zu dieser Zeit ein bekannter Anlaufpunkt für Freigeister unterschiedlichster Schattierungen. Als man ihn nach Kriegsbeginn 1914 zum Wehrdienst einzog, simulierte er anhaltend den Wahnsinnigen und wurde schließlich unversehrt wieder entlassen.

Bis hierher ein Leben auf der Flucht vor Autoritäten, der Obrigkeit und dem Alltag.

Die Revolution

Graf sah sich in einer unterschwellig anarchistischen Familientradition: Seine väterlichen Vorfahren waren aus Tirol eingewanderte Waldenser, Angehörige einer als Ketzer verfolgten religiösen Minderheit. „Ihre Geschichte hatte sie gelehrt, dass Vaterland und Obrigkeit äußerst fragwürdige, unbeständige Dinge seien.“

Mit der Münchner Revolution und der blutigen Niederschlagung der Räterepublik im Mai 1919 durch Freikorps und reguläres Militär beginnt Grafs Politisierung im Umfeld von Anarchismus, USPD und KPD. Er erlebt Diskussionen mit Kurt Eisner, lernt Ernst Toller, Erich Mühsam und Gustav Landauer kennen, tritt als Redner auf und wird Zeuge der blutrünstigen Niederschlagung der Revolution. „Meinetwegen mag man sagen, die deutsche Revolution von 1918 sei eine einzige Hilflosigkeit gewesen, die an der Engstirnigkeit und am Verrat einiger sozialdemokratischer Führer scheiterte – eins ist aber gewiss: Das Volk, die Massen kämpften!“ Nicht nur, wie er betont, in München, sondern auch im Ruhrgebiet, in Sachsen und vielen anderen Regionen.

Folgerichtig engagiert er sich gegen Wiederaufrüstung, Zensur und Todesstrafe, wird Mitglied der Roten Hilfe, sammelt für die Sowjetunion, wirbt später für die KPD (wohl ohne ihr beizutreten) und ist Vorsitzender des Münchner Sacco-und-Vanzetti-Komitees. Sein Engagement wurzelt in seiner eigenen Lebenserfahrung: „Sie sind alle Hunde gewesen wie ich, haben ihr Leben lang kuschen und sich ducken müssen, und jetzt, weil sie beißen wollen, schlägt man sie tot.“

Graf misstraute zeitlebens vielen Intellektuellen und Schriftstellern, die er „die Geistigen“ nannte. Er hielt sie zumeist für Klugschwätzer, die sich in die Büsche schlagen, wenn es drauf ankommt. „Ich war nie Parteisozialist und habe mir nicht erst von marxistischen Schriftgelehrten sagen lassen müssen, was Sozialismus ist. ‚Mir ist – um mit Gorki zu reden – mein Sozialismus von Kind an auf den Rücken geprügelt worden‘. Das hat mich … gleichsam instinktiv und zwangsläufig zum Rebellen gemacht.“ Der Rebell handelt für Graf „einzig und allein aus einer grundmenschlichen Empörung gegen jeden Missbrauch der Schwächeren durch die Stärkeren, aus der erlittenen Einsicht, dass Unrecht und Unmenschlichkeit, niederträchtiger Massenbetrug und chauvinistische Völkerverhetzung gemeine Verbrechen asozialer Machthaber sind.“

Ganz in diese Richtung weist auch ein Brief an Egon Erwin Kisch, in dem er diesen 1935 an eine zehn Jahre zurückliegende Begegnungen in Berlin erinnert. Im Künstlerlokal „Schwannecke“ sei es damals unter Intellektuellen chic gewesen, links zu sein, dort saßen „sehr nette, in ihrer übergescheiten Beflissenheit etwas lächerliche Leute“, die gelehrte marxistische Phrasen droschen – und teils schon wenige Jahre später ihr Fähnlein in den neuen politischen Wind hängen sollten. Den Kisch hingegen habe er sofort verstanden, und er bewundert ihn weiterhin dafür, dass „die Proleten“ seine Bücher lesen.

Ein Büchlein in Konstanz

Mit der Schriftstellerei konnte der Autodidakt Graf praktisch nichts verdienen. Er musste sich immer wieder als Arbeiter verdingen, scheute aber auch vor krummen Geschäften nicht zurück. Er brachte auf „Atelierfesten“ betuchte Geschäftsleute mit der Münchener Bohème zusammen und sorgte in der Villa des bedeutenden Musikwissenschaftlers Anthony van Hoboken, der genug Zaster hatte und gern ordentlich einen draufmachte, für Unterhaltung. Der noch erfolglose Autor litt in dieser Zeit oft unter zermürbender Geldnot, „Geld war wirklich mit der Zeit für mich etwas geworden wie ein Dämon, der das Leben beherrschte.“

Graf bemerkte früh, dass die Zeitungen gern Kunstkritiken druckten und dass man dafür von der Sache nicht allzu viel verstehen musste. So entstanden zwischen 1918 und 1926 immer wieder Texte für Münchener Zeitungen, unter anderem aus dem künstlerischen Umfeld von Expressionismus und Neuer Sachlichkeit. 1919 veröffentlichte er etwa eine Broschüre über seinen langjährigen Freund, den Maler Georg Schrimpf. Diese Monographie erschien als „Erstes Künstlerheft der Saturne“ in Konstanz und wurde 1923 erweitert. Die Bekanntschaft mit etlichen Malern führte umgekehrt auch dazu, dass relativ viele Porträts von Graf erhalten sind, die ihn als einen kräftigen, großen Mann mit einem eindringlichen Blick zeigen. Das bekannteste Graf-Porträt (von Schrimpf) gibt es im Internet gar als Kissenbezug zu kaufen.

Spezialität ländliche Sachen

Mit seinen nächsten Publikationen in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre wie der „Chronik von Flechting“ erwarb sich Graf dann den Ruf eines Spezialisten für bayrische Dorfthemen. Er wurde gern mit Ludwig Thoma verglichen, dem er aber wegen dessen rechten Ausfällen teils ablehnend gegenüberstand. Emerenz Meier und Lena Christ, zwei bayrische Schriftstellerinnen mit entfernt der seinen verwandten Lebensgeschichten, finden bei ihm hingegen lobende Erwähnung.

Das Bayrische war für Graf wesentlich mehr als nur ein heimatliches Idiom, er sah im Dialekt eine Art sprachlicher Waffe, mit der sich Aufschneidereien schnell entlarven ließen. „Jeder Dialekt, und unser altbayrischer ganz besonders, hat eine schier bestürzende Kraft des respektlosen Profanierens. Es ist auch ein ganzer Haufen Bosheit dareingemischt, gegen deren spezifische Direktheit kein Witz, keine Schlagfertigkeit aufkommt.“

Durchaus geschäftstüchtig pflegte er sein heimatverbundenes Image, auch wenn es ihn dauerhaft einzuengen drohte. „Um ein für allemal den Gefahren des Berühmtwerdens zu entgehen, habe ich mir seinerzeit in München, als meine Schriftstellerei schon ganz gut florierte, Visitenkarten drucken lassen; ‚Oskar Maria Graf, Provinzschriftsteller‘, und des Geschäfts wegen habe ich gleich darunter setzen lassen: ‚Spezialität ländliche Sachen.‘ Damit hab‘ ich wenigstens erreicht, dass man mich damals (es war noch die ordentliche Vorhitlerzeit) in die Kategorie der ehrsamen Geschäftsleute eingestuft hat.“

Harald Borges

Der zweite und letzte Teil dieses Porträts folgt morgen auf seemoz.

Anmerkungen

Eine etwas andere Version dieses Textes erschien in der letzten Woche in der WOZ: http://www.woz.ch/

Die Rechtschreibung in den Zitaten wurde dem heutigen Gebrauch angepasst. Auslassungen in den Zitaten wurden um der besseren Lesbarkeit willen nicht kenntlich gemacht.

Bücher von Graf

Seine Werke sind weiterhin im Buchhandel sowie antiquarisch erhältlich.
Unbedingt lesenswert:
– „Das Leben meiner Mutter“ (eine Familiengeschichte, auch als Hörbuch mit Gustl Bayrhammer).
– „Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis“ (auch als Hörbuch mit Jörg Hube).
– „Bolwieser“ (auch erhältlich als „Die Ehe des Herrn Bolwieser“ u.ä.), ein satirischer Roman über die Tücken der bürgerlichen Ehe (verfilmt von Rainer Werner Fassbinder).
Eher für „die Geistigen“, wie Graf gesagt hätte:
– „Reise nach Sowjetrußland 1934“. Grafs Aufzeichnungen über seine Reise in die UdSSR erschienen erst posthum 1974.
– „Unser Dialekt und der Existenzialismus“, ein zu Herzen gehender Aufsatz über die Macht des Dialekts im Sammelband „An manchen Tagen“.

Bücher über Graf

Teils nur noch antiquarisch erhältlich:
– Wilfried F. Schoeller, Oskar Maria Graf. Odyssee eines Einzelgängers. Texte Bilder Dokumente, 1994. (Eine voluminöse Biographie mit zahlreichen Abbildungen und Dokumenten von und über Graf, sehr lohnend.)
– Gerhard Bauer, Gefangenschaft und Lebenslust. Oskar Maria Graf in seiner Zeit, 1987. (Eine wissenschaftliche Biographie.)
– Georg Bollenbeck, Oskar Maria Graf, 1985. (Ein knapper Überblick.)
Weitere Quellen:
– Oskar Maria Graf liest „Verbrennt mich!“. Geschichten, Erinnerungen und Gespräche. Doppel-CD mit Aufnahmen, in denen Graf eigene Texte liest und über Bekannte plaudert.
– „Dahoam in Amerika“, 44-minütiges Fernsehporträt u.a. mit Konstantin Wecker. http://www.ardmediathek.de/tv/LIDO/Oskar-Maria-Graf-Dahoam-in-Amerika/BR-Fernsehen/Video?bcastId=14912680&documentId=33047238