Unser Graf!
Antifaschist, Provinzschriftsteller, Anarchist, bayerisches Urviech – Oskar Maria Graf hatte viele Gesichter. Sein Verständnis für Menschen und Geschichte machen ihn zu einem der bedeutenden linken Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Prädikat: Pflichtlektüre und Herzenssache. Hier Teil zwei des Porträts dieses aussergewöhnlichen Autors zu seinem 50. Todestag.
„Ich kam mir ziemlich überflüssig in der revolutionären Bewegung vor. Zutrauen hatte ich zu nichts und niemandem und von mir selber erwartete ich am allerwenigsten. Also fing ich an, Säufer zu werden. Der Sumpf hatte mich geschluckt.“ 1927 erscheint schließlich das Buch, das vieles in Grafs Leben änderte: „Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt“ erregte erhebliches Aufsehen. Es ist ein Buch über die Jahre 1905-1919, also seine späte Kindheit und seine Erfahrungen in der Zeit um den Ersten Weltkrieg herum. Graf blendet darin auch seine persönlichen Schwächen und seine politische Unsicherheit nicht aus, auch wenn man jeglicher autobiographischen Darstellung natürlich immer misstrauen muss, da die Grenze zwischen Autobiographie und fiktionaler Selbststilisierung stets fließend ist.
Das Werk wird schnell als das Buch einer ganzen Generation verstanden. Thomas Mann lobte es als unvergängliches „menschlich-historisches Zeugnis“, auch Romain Rolland und Maxim Gorki äußerten sich anerkennend. Das Werk wurde umgehend ins Englische, Französische und Russische übersetzt, und die Presse zog gelehrte Parallelen – etwa zu Ulrich Bräkers klassischer Autobiographie „Der arme Mann im Tockenburg“.
Es gab allerdings auch Kritik. Die politische Rechte geißelte vor allem Grafs Antimilitarismus, sein Simulantentum im Krieg und seine Parteinahme für die revolutionären Kräfte. Von links wurde ihm vorgehalten, dass die Hauptfigur kein innerlich gefestigter Revolutionär sei, sondern eben ein Schwarzmarktschieber und Bohemien. So soll ein (vermutlich fiktiver) sowjetischer Arbeiter gesagt haben: „Ein schöner Revolutionsheld! Der geht mit einem Liebchen Sekt saufen und lässt andere für sich kämpfen.“ Auf diese Kritik antwortete Graf in der Zeitschrift „Linkskurve“, er wolle mit diesem Buch zeigen, wie die Menschen wirklich sind und wie sie sich verändern können. „Mit Versen, mit Lobliedern und Romanen, die immer nur darauf hinauslaufen, dass die Genossen recht haben, gut sind, zu Unrecht unterliegen oder mit Begeisterung siegen, ist wenig getan.“
Verbrennt mich!
Graf kann jetzt als freier Schriftsteller existieren und hat durchaus Sinn fürs Geschäftliche. Er macht mit Anekdoten, die Zigarettenpackungen beigelegt werden, Werbung für seine Bücher und schreibt für einen Backmittelhersteller. Neben diesen Brotarbeiten begreift der aufstrebende Autor sein Talent jetzt aber endgültig als eine ganz persönliche Verpflichtung in der Tradition Tolstois, den er als sein größtes schriftstellerisches und menschliches Vorbild verehrt.
Nach der Machtübergabe an Hitler („Menschenkot aus Braunau“) 1933 verlässt Graf Deutschland endgültig, geht zuerst nach Österreich, dann nach Brno und Prag. Für ihn ist dieser Nationalsozialismus kein singuläres Ereignis, sondern eine logische Fortsetzung des Kaiserreichs. „Der Geist des Wilhelminertums, die Soldatenzucht und Uniformverehrung, die Ausschaltung des Volkswillens, das war der Anfang, das war die Ursache, und jetzt – mit dem Reiche Adolf Hitlers – erleben wir die schaurige Wirkung.“
Als Graf erfährt, dass seine Werke (mit Ausnahme von „Wir sind Gefangene“) im Mai 1933 nicht verbrannt worden sind, weil die Nazis ihn für einen bayrischen Volksschriftsteller halten, publiziert er in der Wiener „Arbeiter-Zeitung“ seinen berühmten Protest „Verbrennt mich!“: „Nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht zu verlangen, dass meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbanden gelangen.“
Seine Bücher wurden verbrannt, er selbst im Juni 1933 ausgebürgert. Er sollte 25 Jahre lang staatenlos bleiben.
Im Janker durch Moskau
Äußerlich kokettierte Graf gern mit der Rolle des Provinzlers. Auf dem Ersten Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller 1934 in Moskau stapfte er in Lederhose, kariertem Janker und Flaumfederhut umher, ein Aufzug, den er zeitlebens immer wieder anlegte. „So eine simple Tracht macht Dich bekannt, ohne dass du was dazutun musst“, bemerkte er selbstironisch. Dieser Kongress wird ein erstes – und für viele auch letztes – Treffen der internationalen antifaschistischen Intelligenz. „Da sahen wir uns also wieder, wir ehemaligen Bohemiens, wir intellektuellen Revolutionäre aller Schattierungen, wir verschwiegenen Romantiker, wir Abenteurer im Geist und heimlichen Spießbürger im Leben, wir versprengten, emigrierten Schriftsteller, die der Hitlerismus in alle Windrichtungen der Welt verschlagen hatte!“
Graf knüpft Kontakte: Er plaudert mit Boris Pasternak über Rilke und schließt Freundschaft mit Sergei Tretjakow. Dass er später im tschechischen Exil neben diesen beiden auch Ilja Ehrenburg begrüßen kann, geht auf diesen Kongress zurück, an den sich eine mehrwöchige Reise durch die Sowjetunion anschließt. Graf begeisterte sich für die Aufbauleistungen der sowjetischen Kommunisten, war aber nicht blind für die Probleme, mit denen der junge Staat zu kämpfen hatte.
Er hoffte lange auf weitere Lebenszeichen von Tretjakow (der bereits im September 1937 erschossen worden war und 1956 rehabilitiert wurde). Isaak Babel, den er dank der gemeinsamen Vorliebe für Tolstoi sehr schätzte, teilte Tretjakows Schicksal. Die politische Kehrtwende mancher linken Intellektuellen nach dem Bekanntwerden der Stalinschen Exzesse gegen tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle vollzog Graf später jedoch nicht mit.
Ein Bayer in New York
1938 zieht er schließlich mit seiner jüdischen Lebensgefährtin Mirjam Sachs nach New York. Die beiden wohnen in 34, Hillside Avenue in Upper Manhattan, einer Gegend, die wegen der zahlreichen deutschsprachigen Exilanten als das „Vierte Reich“ galt. Für Graf, dessen Englisch nach eigenem Bekunden ziemlich rudimentär bleibt, ein ideales Biotop, in dem er bald einen Stammtisch gründet, an dem neben vielen anderen auch Bert Brecht auftaucht. Das bekannte Foto der beiden, das die beiden gegensätzlichen Schriftstellercharaktere gut versinnbildlicht (siehe oben), wurde 1943 aufgenommen.
In Amerika entsteht „Das Leben meiner Mutter“, Grafs bedeutendstes Werk. Das Buch schildert in ergreifender Nüchternheit das harte Leben einer durch Arbeit und Religiosität geprägten Frau und Mutter, für die jeden Morgen ein Tag anbricht, „der eben bezwungen werden muss“. Grafs Menschen bedienen nicht das Klischee des heilen Landlebens, sondern kämpfen in einer sich wandelnden dörflichen Welt mit existenziellen Herausforderungen. Blut-und-Boden-Phantasien sind ihnen fremd, sie haben sich durch ein oftmals gefährdetes, befremdendes und beängstigendes Leben zu schlagen.
Entlang seiner Familiengeschichte schreibt Graf ein Meisterwerk des – immer auch poetischen – Realismus. „Mir galt und gilt der Bauer schriftstellerisch immer nur als Mensch wie jeder andere Mensch. Abgesehen von der Daseinsart, die ihm von seiner Umgebung aufgezwungen wird, ist er das gleiche fragwürdige, nutzungs- und triebgefangene Luder wie wir alle“.
In der Diaspora
Graf wird in New York Vorsitzender der antifaschistischen „German American Writers Association“, die sich unter anderem um Visa für emigrierte Schriftsteller zu kümmern versucht, in der es aber schnell zu Differenzen über den Hitler-Stalin-Pakt kommt. Es wird bald klar, dass es „die“ Emigration nicht gibt und dass die alten Gräben zwischen liberalem, sozialdemokratischem und kommunistischem Lager unüberwindbar sind, selbst angesichts der gemeinsamen Bedrohung durch den „Hitlerismus“, gegen den Graf unermüdlich in Reden und Aufsätzen kämpft.
Stellungnahmen Grafs zur Sowjetunion bleiben in dieser Situation eher selten. Er propagiert 1951 „die geistige und politische Entscheidung für den Bolschewismus“ als den Weg zur Rettung der Menschheit. Gleichzeitig distanziert er sich deutlich vom Stalinismus, den er als „unmögliche Diktatur“ bezeichnet.
Graf und das FBI
In den USA hat er es lange schwer gehabt, denn als Linker wurde er schnell als „Stalinagent in der Lederhose“ verdächtigt, wie er spottete. Bereits 1943 veranstaltete das FBI bei ihm eine (ergebnislose) Hausdurchsuchung und verhörte ihn zum ersten Mal. „Auf Grund sehr lächerlicher Denunziationen aus dem Jahre 1938 bin ich hier noch immer suspekter ‚Staatenloser‘ und gelte überall als wilder Kommunist“, schrieb er 1949 an Thomas Mann.
Weitere Vorladungen folgten, die Emigration erwies sich schnell als ein Sumpf aus Anbiederei, Rachsucht und Missgunst. „Jeder Klub, jeder Mensch, der irgendwann einmal Sympathien für den Kommunismus oder Sowjetrussland bekundet hatte, wurde dutzendemal verhört, verdächtigt und auf Grund von Denunziationen privat geächtet und beruflich ruiniert.“ Sein letztes Verhör 1958 beschreibt Graf in einem Brief an Lion Feuchtwanger mit seinem typischen Sinn für Humor: Er sei kürzlich vom Einbürgerungsamt vorgeladen worden. „Der Beamte hatte die Riesenakte vor sich und sagte: ‚Herr Graf, diese Akten haben den amerikanischen Staat Tausende von Dollars gekostet und sind wertlos. Sie können sich hauptsächlich bei Ihren Mitemigranten bedanken für all die Denunziationen.‘“
Kurz darauf ist Graf endlich US-Bürger, allerdings wird er separat von anderen Neubürgern und mit einer eigenen Eidesformel eingeschworen, da er das Bekenntnis zum Militärdienst kategorisch verweigert.
Die letzten Jahre
Graf lebte gern in New York, das ihm als ein friedlicher Mikrokosmos erschien, trotzdem protestierte er regelmäßig gegen Fehlentwicklungen der US-Politik, vor allem gegen Rassentrennung, Aufrüstung und Imperialismus. Er klagte, die US-Regierung finde etwa ein rückschrittliches, „durch und durch korruptes China unter Tschiang-kai-scheck viel akzeptabler, als ein China unter Mao Tse-tung, das endlich aus seinem ewigen Elend und Hunger heraus will!“
Gegen Ende seines Lebens haben ihn, den alten Rebellen, die Proteste gegen den Vietnamkrieg besonders beeindruckt. „Das ganze vernünftige Amerika steht auf gegen diese wahnsinnige Verbrecherclique, die uns regiert. Da könnten sich andere Völker und insbesondere die linken Kreise der Bundesrepublik ein Beispiel nehmen. Aber seitdem die Herrn Wehner und Brandt einträchtig mit dem Herrn Kiesinger (schon sein seifig-freundliches Gesicht stößt mich jedesmal ab) regieren, scheint ja nun die Masse der Konsumvereinssozialdemokraten ganz und gar still und fügsam zu sein“, schreibt er rund ein halbes Jahr vor seinem Tod. Auch die Gruppe 47, in der sich viele der bekannteren westdeutschen Nachkriegsschriftsteller trafen, kriegt (unter anderem in einem Leserbrief an „konkret“) ihr Fett ab, weil sie eine Einladung in die USA nach Princeton angenommen hatte, statt diese unter lautem Protest gegen den Vietnamkrieg zurückzuweisen.
Deutsche Literatur
Überhaupt geht Graf mit der zeitgenössischen (west-)deutschen Literatur gelegentlich hart ins Gericht und wirft ihr politisches und menschliches Versagen vor (für ihn ist beides untrennbar). Er bemängelt 1960 das Fehlen des „großen zeitkritischen Romans, in welchem mit unmissverständlicher Rücksichtslosigkeit gegen alles Verlogene, Korrupte, Schlechte und Unmenschliche unseres heutigen gesellschaftlichen und politischen Lebens Stellung genommen wird!“ Im Umkehrschluss heißt das wohl auch, dass Graf sich selbst einen solchen Roman nicht (mehr) zutraute.
Den Rest seines Lebens verbrachte er – von einigen Reisen nach Europa in seinem letzten Lebensjahrzehnt einmal abgesehen – weitgehend in New York, wo er am 28. Juni 1967 starb, nach einem Lebensweg, der ihn aus der trübseligen bayrischen Provinz des 19. Jahrhunderts in die amerikanische Megacity schlechthin geführt hatte.
Nach Deutschland, das er ab 1958 einige Male besuchte, wollte Graf nicht mehr dauerhaft zurückkehren. „Was mich gerade in der ‚wirtschaftswunderlichen‘ Bundesrepublik am meisten anwiderte, war, ganz abgesehen von einem bereits latent gewordenen Antisemitismus, das wiedererwachte, engstirnig provinzielle deutsche Tüchtigkeitsprotzentum, gepaart mit der durchgehenden spießbürgerlich-nihilistischen Prasserstimmung: ‚Nach uns die Sintflut. Hauptsache ist, mir geht’s gut.‘“
Oskar Maria Graf landete schließlich doch noch auf dem Vorzeigefriedhof von München-Bogenhausen, um dort Erich Kästner, Liesl Karlstadt und Rainer Werner Fassbinder Gesellschaft zu leisten. Vielleicht hat er’s ja nicht besser verdient.
Harald Borges