„Naturschutz ist Hammer – nicht Amboss“

Erinnerung an eine Naturschutz-Rede von vor 50 Jahren – es gibt Reden, die auch nach Jahren des Zitierens noch wert sind: Am 9. Juni 1967 hielt der legendäre Konstanzer „Naturschutz-Landrat“ Dr. Ludwig Seiterich eine Dankes­rede zur Verleihung der Alexander-von-Humboldt-Medaille an der Universität Bonn. Seiner Rede gab er den Titel: „Naturschutz – Hammer oder Amboss?“ Für manchen Entscheider im Konstanzer Rathaus sollte das so aktuell sein wie vor 50 Jahren.

Die Thesen, die Seiterich (Foto) in dieser Rede vertrat, sind so radikal – würde sie die oder der Vorsitzende eines Naturschutzverbands heute vorbringen, ihre oder seine Worte würden von Presse und Öffentlichkeit als weltfremd und übertrieben bezeichnet. Noch außergewöhnlicher erscheint Seiterichs politisches Programm, wenn man es vor dem Hintergrund des damaligen Zeitgeistes sieht.

„Naturschutz gehört in den Eimer“

Naturschutz war damals ein selten gebrauchtes Wort – noch lange kein mit Strategien, politischer Kraft, fachlichem Gewicht und vielen praktischen Erfahrungen ausgestattetes Konzept. Den wenigen Menschen, die Naturschutz forderten – Seiterich nennt sie „Naturschutzbruder Namenlos“ – blies mehr noch als heute der Wind ins Gesicht. Seiterich liefert in seiner Rede dafür etliche teils groteske Beispiele und Zitate. Viele davon stammen aus einer „Versammlung des Bundes der Naturschutzgeschädigten der Halbinsel Höri“:

„Naturschutz gehört in den Eimer!“ „Strick um den Hals.“ „Vom Naturschutz kann kein Mensch leben. Sollen wir hier verdammt sein, ein kümmerliches Dasein zu führen, wenn es anderswo Wohlstand gibt?“ „Hoffentlich kommt es nicht so weit, dass man vor lauter Naturschutz die Maulwurfshaufen auf den Wiesen nicht mehr auseinanderwerfen darf!“

Die Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn verlieh Seiterich die Medaille ausdrücklich für seine Verdienste im Naturschutz am Bodensee. Die Kreisstelle für Naturschutz und Landschaftspflege veröffentlichte diese Rede genau vor 50 Jahren in ihrem Nachrichtendienst Nr. 90. Eine Kopie der Veröffentlichung ist bei thomas.giesinger@bund.net zu erhalten.

„Ich bin 72 Jahre alt. Ich bin ein alter Mann. Ich frage mich, warum denn Naturschutz? Das gab es doch früher auch nicht?“ „Es wird Ihnen (dem Landrat) nicht gelingen, die Bevölkerung in die Zwangsjacke des Naturschutzes zu stecken.“ Seiterich fasst das Wirken von Naturschützern und ihren Gegnern so zusammen: „Was gegen uns streitet, ist in der Regel glänzend organisiert. Auch die Lobby funktioniert prächtig. Der Naturschutzgläubige aber klagt Gott seine Not in der Einsamkeit der Wälder und spricht, wenn überhaupt, dann in gefühlvollen Leserbriefen.“

Ein Tunnel von Meersburg nach Konstanz?

Zugleich waren die 1960er Jahre – gerade in Baden-Württemberg – eine Zeit unglaublichen Wirtschaftswachstums und eine Zeit, da man glaubte, man müsse in eine Region nur genug Infrastruktur hineinbauen, dann wachse Gewerbe und Wohlstand von allein. Auch den Bodenseeraum und den See selbst wollten damals die meisten Zeitgenossen zur Industrieregion machen. Jede Bodenseestadt sollte einen Industriehafen bekommen – die irre hohe Autobahnbrücke am Ortseingang von Konstanz zeugt heute noch davon. Der Landtag von Baden-Württemberg forderte die Prüfung eines Umgehungskanals um den Rheinfall und die Schiffbarmachung des Hochrheins bis zum Bodensee. Die kommunale Planungsgemeinschaft Bodensee-Linzgau-Hegau und die Uni Konstanz zeichneten Pläne für eine Bodensee-Straßenbrücke oder gar ein Tunnel von Meersburg oder der Birnau nach Konstanz. Und es gab Ideen für viele andere heute geradezu abenteuerlich klingende Infrastrukturprojekte am Bodensee.

Alle Uferbereiche im Kreis Konstanz unter Landschaftsschutz

Dem setzte Seiterich mit großer Entschlossenheit seine Vision des Bodenseeraums als Erholungs- und Rückzugsraum für Mensch und Natur entgegen – verbal und handelnd: Alle Uferbereiche im Kreis Konstanz, die damals in den Flächennutzungsplänen noch nicht als Bauland ausgewiesen waren, und das komplette Ufer des wildromantischen Mindelsees bei Radolfzell ließ er unter Landschaftsschutz stellen. Das kam einem wohltuenden Bauverbot gleich, das bis heute nicht angetastet wurde.

Bemühungen der Naturschutzverbände und – behörden, besonders wertvolle Uferbereiche, die Hegauberge und andere Natur-Juwelen des Kreises Konstanz als Naturschutzgebiete noch strenger zu schützen, unterstützte Seiterich – mit Erfolg bis heute: Er legte den Grundstein dafür, dass der Kreis Konstanz heute zu den Landkreisen mit dem höchsten Anteil an Schutzgebieten landes- und bundesweit gehört und dafür berühmt ist. In der Folge profitierten und profitieren Kommunen, Landwirte, Schäfer, Verbände und andere mehr als andere Landkreise von Fördermitteln des Naturschutzes.

Doch damit nicht genug: Seiterich hat auch erreicht, dass die damals sechs deutschen Landräte am Bodensee eine Charta zur Entwicklung des Bodensees verabschiedeten, die dem Naturschutz hohen Stellenwert einräumt und eine extrem präzise Strategie für den Naturschutz beschreibt. Vieles davon wurde in den folgenden Jahren und Jahrzehnten umgesetzt – und wirkt bis heute. Seiterich ist diese Charta, dieses Naturschutz-Programm für den Bodensee, so wichtig, dass er sie in seiner Rede komplett zitiert.

Nur einige Zitate – man bedenke dabei, dass hier ein von Kreisräten gewählter Landrat spricht, und kein Vertreter von BUND, NABU oder Greenpeace: „Wir sind zutiefst überzeugt, dass Naturschutz auf den Menschen hin ausgerichtet ist, um des Menschen Willen geschieht. Man kann es schlicht und einfach so sagen: Ohne gesunde Natur kann weder Geist noch Leib, weder Herz noch Seele noch Gemüt heil und gesund bleiben.“Und: „Das feine und edle Gut der landschaftlichen Schönheit ist, Gott sei’s geklagt, nicht vermehrbar, nur verminderbar. Was weg ist, ist weg – in aller Regel unwiederbringlich. Deshalb: Wenn unsere Kinder sich in zwanzig, dreißig Jahren auch noch am See von Herzen freuen wollen, dann müssen wir ihn heute – hic et nunc – schützen. Heute fallen die Schicksalswürfel. Auf uns Heutigen liegt die Last, in Generationen zu denken“. Seiterich fragt: „Warum haben wir uns mit Haut und Haaren dem Naturschutz in verschworener Gemeinschaft verschrieben? Wir sind verliebt in unseren Bodensee!“

Vom Götzen Kraftfahrzeugverkehr

„In den Waagschalen liegt – die Seele dieser Landschaft, ihr ganz einmaliger Charme, ihre noch weitgehende Unberührtheit und Natürlichkeit – und das verführerisch gleißende Gold märchenhaft in die Höhe schnellender Grundstückspreise.“ „Wir wollen das unwägbar Unersetzliche vor der anstürmenden Tüchtigkeit der Zeitgenossen schirmen und bewahren.“ „Was diese Auseinandersetzung so erregend und so gefährlich macht, ist die Unwiderruflichkeit der Entscheidungen. Was einmal aus dem Naturschutz herausgerissen wird, kehrt niemals zurück!“

„Wird man auf unsere Stimme hören, die wir nicht bereit sind, dem Götzen Kraftfahrzeugverkehr von vornherein eine über alles prädominierende Rolle zuzugestehen?, Wir, die wir um des Menschen willen nicht bereit sein können, diese von Schönheit und Kultur geprägte Landschaft durch die Geschäftstätigkeit unserer Zeitgenossen in den Hintergrund drängen zu lassen.“

„Wird der in seinem prometheischen Drang daherstürmende homo faber mit seiner atemberaubenden, kraftstrotzenden Devise triumphieren: was machbar ist, muss gemacht, muss geschaffen, muss verwirklicht werden -, denn die Erde ist des Menschen Untertanenland?“

„Die Tatsache, dass viele Grundstücke in Natur- und Landschaftsschutzgebieten liegen, lässt die meisten Käufer kalt. Sie rechnen anscheinend mit Ausnahmebewilligungen (wir könnten Romane darüber schreiben, wer alles in dieser Hinsicht wem alles schon behilflich sein wollte!), mit Grenzänderungen der Schutzgebiete, letztlich mit einer Aufweichung der Naturschutzfront.“

„Naturschutzrecht ist mitnichten ‚weiche Währung‘, keinesfalls Recht zweiten Ranges, das nach Lust und Laune des Augenblicks manipulierbar wäre. Nein, Naturschutzrecht ist vollgültiges, gehauenes und gestochenes Recht.“

Ans Ende seiner Rede stellt Seiterich optimistische, von seiner Zeit als Soldat geprägte Sätze: „Ich trete gerne wieder ins Glied zurück, zutiefst von der Gewissheit erfüllt, dass wir mitnichten in einem verlorenen Haufen marschieren, vielmehr in der Kompagnie der Hoffnung. Unser Feldgeschrei war und leibt der alemannische Kernspruch: it luck lo – nicht locker lassen. Naturschutz ist Hammer – nicht Amboss!“

Thomas Giesinger (Bürger von Radolfzell am Bodensee, Vorstandsmitglied des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Ortsverband Radolfzell)