Durchgeknallte Entfremdungsgeschichte
Das Ensemble der aktuellen Inszenierung des See-Burgtheaters im benachbarten Kreuzlingen rockt herrlich über die Bühne. „Kasimir und Karoline“, die ernüchternde Geschichte zweier sich angeblich Liebender, bleibt lange im Kopf. Dabei sorgen Zoff und Zoten für kurzweiliges Spektakel. Die jungen Darsteller wirbeln über die drei Etagen ihres Party-Gerüsts, dass sich die Stahlrohre biegen. Es ist laut, es klappert und kracht, sie rutschen, turnen und schaukeln herum.
Die Handlung dagegen ist nicht erbauend. Während sich Karoline (Maria Lisa Huber) amüsieren will, ist Kasimir (Kaspar Locher) griesgrämig, denn er hat soeben seinen Job als Chauffeur verloren. Er befürchtet, seine Freundin werde sich nun von ihm abwenden. Grimmig haut er den Lukas und schon bald streiten die beiden und ziehen alleine übers Fest. Er trifft auf einen alten Arbeitskollegen, den Kleinkriminellen Merkl Franz; sie bändelt mit Schürzinger (Florian Steiner) und den beiden reichen Lustmolchen Rauch und Speer (Werner Biermeier und Bastian Stoltzenburg) an. Am Ende der Nacht finden sich zwei neue Paare – nicht aus Leidenschaft, sondern weil sie irgendwie niemanden anderen abkriegen.
Starker Tobak
Dem Publikum verlangt der Inhalt ganz schön viel ab, denn eine Identifikationsfigur gibt es keine. Der so schön trotzig von Locher gespielte Kasimir käme in Frage, aber die Rolle ist viel zu dödelig angelegt. Ein Held würde seinem Schicksal anders entgegentreten. Der luftigen Karoline gelingt nicht nur im Wechselspiel mit Schürzinger ein gelungener Auftritt, da aber besonders. Doch weil sie sich erst auf den lüsternen Chef einlässt, um dann später seinem duckmäuserischen Angestellten den Vorzug zu geben, punktet sie nicht mit Integrität. Schürzinger selbst verscherzt alle Sympathien durch seine devote Haltung gegenüber Rauch.
Schon von vorne herein nicht in Frage kommen dieser grosskapitalistische Spanner selbst und sein Freund, der sexbesessene Speer – herrlich asozial gespielt von den beiden alten Hasen des Ensembles. Dasselbe gilt für den Frauenhasser Merkl Franz, den Lennart Lemster wunderbar über die Bühne halbstarken lässt, und die von ihm geprügelte Erna (Tatjana Sebben), die über die Jahre ebenso misogyn geworden ist wie ihr Unterdrücker.
Während man also die schauspielerische Leistung bewundert, kann man die Charaktere nicht so richtig gut finden. Aber das fällt dem der Vorlage Unkundigen erst auf, wenn der sprichwörtliche Vorhang gefallen ist. Denn die turbulente Inszenierung läßt einen kaum Atem holen. Von Beginn weg zieht Andrej Reimann als Ausrufer das Publikum mit seinem intensiven Spiel in den Bann. Den Arm im Gips als Zeuge vollsten Einsatzes schleudert er dreckige Uralt-Witze in die Ränge, über die er selbst wie irre am lautesten lacht. Schließlich ist das Oktoberfest kein Kindergeburtstag, das wird dem Publikum mittels Party-Schlagern voller sexueller Anspielungen und dem das Groteske zelebrierenden „Chor“ (wunderbar und ohne Worte: Elisabeth und Olga Doering) ins Gesicht geklatscht wie eine leere Plastikflasche Billigbier aus dem Aldi. Wer hierher kommt, will seinen niederen Trieben nachgehen, will den Kontrollverlust, will saufen, bis er ans Seeufer kotzt.
„Diese Sauweiber. Dreckiges Pack. Ausrotten. Ausrotten – alle!“
Das muss so sein, um das Stück von Ödön von Horváth in die Gegenwart zu holen. Denn heute, 85 Jahre nach der Uraufführung von „Kasimir und Karoline“, ist das Publikum ganz andere Exzesse gewöhnt, egal ob Sex und Gewalt in TV-Serien oder Drogenkonsum in populären Songs. Die Realität ist längst weiter, wenn einer der mächtigsten Männer der Welt nach der Maxime „Grab ‘em by the pussy“ handelt. Reiche Säcke, die Pornos im Aktenkoffer haben, Samos spendieren, Kirschwasser in sich hineinschütten und den Frauen auf der Rutsche unter die Röcke schauen, sind da ja fast schon süß.
Haarigste Szene ist ergreifend
So wundert man sich noch, wieso einen das Geschehen zwar unterhält, aber doch nie so richtig packt. Und dann steht da plötzlich das am ganzen Körper behaarte Gorillamädchen Juanita, eine Attraktion aus der Absurditätenshow. Sie laust kurz den Conferencier. Dann klettert sie bis ganz nach oben und besingt mit Offenbachs „Barcarole“ eine Liebesnacht, die ihr Verlangen zum Stillen bringen soll: „Süßer als der Tag uns lacht die schöne Liebesnacht.“
Doch eine solche wird erst recht nicht ihr noch den anderen Figuren widerfahren. Richtige Liebe gibt es nicht, am Ende stehen alle einsam da, entweder dem Tod geweiht oder in Zweckgemeinschaften zusammengetan. Das Zitat aus dem Neuen Testament, welches Horvath dem Stück voranstellte, „Und die Liebe höret nimmer auf“, wird durch die Handlung konterkariert. Da muss man doch erschöpft auflachen. Aber jetzt gehen wir erst mal tanzen.
„Erna?“, fragt der Kasimir am Schluss. „Was?“, fragt sie zurück. „Ach, nichts …“
Stefan Böker
Der Text erschien zuerst auf www.kreuzlingerzeitung.ch