Wer heilt unser krankes Gesundheitssystem?
Wer von der Kandidaten-Kür zur Gesundheitspolitik sensationelle oder auch nur neue Erkenntnisse erwartet hatte, wurde enttäuscht. Die Wahlkreis-Kandidaten zur Bundestagswahl konnten am Montag im ZfP Reichenau nur altbekannte Argumente abliefern. Aber immerhin: Bei einigen Punkten wurden die Positionen der Parteien und Kandidaten (was nicht immer deckungsgleich ist, wie sich herausstellte) deutlich.
Vor knapp mehr als 70 Gästen vornehmlich aus dem Gesundheitsbereich umriss eingangs der Moderator Berthold Maier die Themen, um die es ausschließlich auf dieser vom Personalrat organisierten Diskussion gehen sollte: Pflegenotstand, Bürgerversicherung, Ausbildung und Nachwuchssorgen, verbindlicher Stellenschlüssel in der Pflege, Ärzte-Abwanderung. Und darin war man sich einig auf der Bühne wie im Publikum: Die Reformen im Gesundheitsbereich sind überfällig, Ausreden zählen nicht mehr.
Tobias Volz, SPD, ist auf diesem Gebiet ein Mann vom Fach: Als Betreiber eines privaten Pflegedienstes in Allensbach hätte man von ihm eigentlich Beispiele aus der Praxis und konkrete Lösungsansätze erwartet – stattdessen wiederholte er ein ums andere Mal: „Der Pflegenotstand besteht seit 20 Jahren“. Mehrfach im Laufe der zweistündigen Diskussion forderte er eine bessere Vernetzung der verschiedenen Pflegeeinrichtungen und plädierte für einen „Pflegeschlüssel“ sowie eine Bürgerversicherung.
Martin Schmeding von den Grünen war zusammen mit Simon Pschorr der heimliche Sieger dieser Runde. Er forderte ein „Ende der Zwei-Klassen-Medizin“ und die Einführung der Bürgerversicherung („27,6 Prozent der Erwerbstätigen zahlen nicht in die Sozialversicherungen ein“). Für die „2,8 Millionen Pflegebedürftigen in unserem Land“ müsse zügig mehr Geld aufgewendet werden, „denn wir haben das Geld“. Für den Fall einer Regierungsbeteiligung seiner Partei versprach er ein Sofortprogramm, um umgehend 25 000 neue Arbeitsplätze im Pflegebereich zu schaffen.
Andreas Jung, CDU: Der Bundestagsabgeordnete des Landkreises lobte allen Ernstes das deutsche Gesundheitssystem als „eines der besten in der Welt“. Er forderte, ganz seine Klientel im Blick, allerdings eine bessere ärztliche Versorgung im ländlichen Raum und ein neues Berufsbild für PflegerInnen. Mehrfach betonte er, dass er kein Gesundheitexperte sei – das merkte man ihm auch an, wenngleich er sich geschickt durch die Diskussion schlängelte.
Simon Pschorr, Die Linke, brachte es auf den Punkt: „Unser Gesundheitssystem ist krank“. Es fehlten 162 000 PflegerInnen, „weil es an ihrer Bezahlung hapert“. Die Krankenkassen hätten allein im 1. Quartal 2017 einen Überschuss von 620 Millionen Euro erwirtschaftet, mehr als 35 Milliarden fließen jährlich an die Pharmaindustrie: „Das Geld also ist da“. Und das sollte für Krankenhaus-Investitionen („fünf Milliarden jährlich“, wie es die Linke in ihrem Finanzierungskonzept vorschlägt) und bessere Löhne ausgegeben werden. Auch er plädierte für eine Bürgerversicherung, in die Selbstständige und Beamte einzahlen, und forderte, die privaten Krankenversicherungen gänzlich abzuschaffen. „Weg vom Markt“ müsse das deutsche Gesundheitssystem und wieder in den Mittelpunkt staatlicher Daseinsvorsorge rücken.
Tassilo Richter, FDP: Wie sein konservatives Pendant von der CDU konnte auch der FDP-Mann nichts Schlechtes am Gesundheitssystem in Deutschland finden. Ausdrücklich wandte er sich gegen eine Bürgerversicherung, trat aber für eine Änderung des Budgetierungssystems ein und geißelte die „Überbürokratierung“, die nur durch eine verstärkte Digitaliserung abgebaut werden könne.
Walter Schwaebsch, AfD: Für das Hausarzt-Prinzip ist der Mann vom rechten Rand und gegen eine Fließband-Medizin. Immerhin forderte auch er eine bessere Bezahlung im Pflegesektor. Dass aber alle diese Forderungen sich in seinem Parteiprogramm nicht wiederfinden, störte den AfD-Mann nicht. Auf die Frage, wie er es denn mit einer Gesundheitskarte für Flüchtlinge halte, erklärte er, nicht anerkannten Asylsuchenden solle diese Leistung vorenthalten werden, sie stelle einen zu hohen Anreiz für über eine Milliarde Afrikaner dar. Eine Antwort, für die er aus dem Publikum den Zuruf erntete: „Wir wollen diesen rassistischen Mist nicht hören“.
Schwaebsch war es dann auch, der sich der anschließenden Diskussionsrunde an Stehtischen entzog, während die übrigen Kandidaten dort noch lange aushielten. Da ging es um die Finanzierung alternativer Heilmethoden (keiner wollte das ausschließen, alle aber beharrten auf einer wissenschaftlichen Überprüfung) oder um die Spezialisierung im Gesundheitswesen: Während Jung und Richter in solcher Rationalisierung nur Chancen sahen, warnte Schmeding: „Die Schließung der Geburtshilfe in Radolfzell war ein schlechtes Zeichen.“
Und nur aus dem Publikum kamen dann auch konkrete Beispiele für den miesen Zustand unserer Krankenhäuser, als etwa ein Arzt berichtete, dass Betten auf Intensivstationen nicht belegt werden konnten, weil Pflegepersonal fehlte. Solche Einwürfe hätte man sich in dieser Diskussion häufiger gewünscht.
hpk/hr
Herr Riehle, die Behebung der von Ihnen beschriebenen Missstände ginge im Einzelnen und insgesamt zu Lasten derjenigen und deren Entourage, die an den finanziellen Fleischtöpfen des Gesundheitssystem sitzen. Und warum sollten sich (führende) Politiker, die mit solchen Problemen selbst kaum bis nie konfrontiert sein werden – da bestens versorgt, falls notwendig – über die Formulierung leerer Worthülsen zu Wahlkampfzwecken hinaus, für das einfache Bürgertum ins Zeug legen, um im Ergebnis zwar für dieses eine Verbesserung, für sich und das Establishment aber eher eine „Verschlechterung“ zu erreichen, welche Verschlechterung nicht unbedingt finanzieller Natur sein muss – aber kann – mindestens aber das gesellschaftliche Standing der Profiteure durch Heranführen der unteren an die oberen Schichten betreffen würde, was die gesundheitliche Versorgung und deren finanzielle Ausstattung anbelangt.
Oberflächlich gesehen mag man wirklich glauben, bei uns sei in Sachen „Gesundheit“ alles in Ordnung. In der Selbsthilfearbeit erlebe ich aber täglich, wie Menschen mir von Missständen im Gesundheitssystem berichten.
Eine ganz erhebliche Fehlversorgung zwischen Stadt und Land im niedergelassenen Bereich, eine deutliche Unterversorgung in der Psychotherapie, veraltete Bedarfspläne, ein nicht funktionierendes Terminmanagement-System, monatelange Wartezeiten bei ausgewählten Facharztrichtungen, ein weiterhin erkennbarer Unterschied in der Behandlung von „Kasse“ und „privat“, eine frühzeitige Entlassung aus der stationären Versorgung bei unzureichender ambulanter Anschlussversorgung, „Drehtür-Effekt“ durch das Pauschalwesen, fehlende Wegweiser durch die Angebote des Gesundheitssystems, überteuerte Medikamente und zunehmende Mehrkosten für die Patienten, mangelnde Ausstattung an Pflegepersonal, zu geringe Entlohnung für therapeutische und pflegende Berufsbilder, unzureichende Wertschätzung des Hebammen-, Ergo- und Physiotherapeutenberufes, mangelnde fachärztliche Notversorgung am Wochenende, schlaffer ambulanter Präsenzdienst zur Entlastung der Notaufnahmen, hohe Eigenanteile im Pflegeheim, Überbewertung der ambulanten OP, Herabwürdigung der Sinnhaftigkeit der Rehabilitation usw.
Keine Frage, das Gesundheitssystem läuft – irgendwie. Blickt man aber in „Einzelfälle“, mehren sich diese zu einem Flickenteppich, der eine Rundumerneuerung bedürfte, einer Reform, die nicht nur Lücken füllt, sondern der Gesundheit den wichtigsten Stellenwert in der Politik zuschreibt. Denn ohne sie geht es bei niemandem, nicht beim MdB, nicht beim Kandidaten zur Bundestagswahl – und eben auch nicht beim einfachen Bürger.