Katalonien: Demokratie statt Nationalismus

Auf den ersten Blick scheint der katalanische Konflikt ein weiteres Beispiel für den wieder erstarkenden Nationalismus in Europa zu sein. Das gängige Stereotyp lautet, reiche Katalanen wollten sich der Solidarität mit dem armen Süden verweigern. Doch tatsächlich liegt der Fall anders. Die Unabhängigkeitsbewegung, die in den letzten sieben Jahren in Katalonien entstanden ist, steht den europäischen Nationalismen in vielerlei Hinsicht diametral entgegen.

Das fängt damit an, dass die Bewegung nicht von Rechtspopulisten, sondern von einem Bündnis aus bürgerlichen Liberalen, Linksrepublikanern und radikalen Linken dominiert wird. Die Mehrheit der Bewegung ist – ähnlich wie die schottische – proeuropäisch, der linke Flügel verteidigt einen klassischen Internationalismus. Omnium Cultural, eine der beiden großen zivilgesellschaftlichen Organisationen der Unabhängigkeitsbefürworter, trägt die Kampagne zur Aufnahme von Flüchtlingen mit.

Und der bürgerliche Ministerpräsident Carles Puigdemont erklärte unlängst in einem „Spiegel“-Interview, man sei stolz darauf, ein Land von Einwanderern zu sein, in dem 70% der Bevölkerung Wurzeln außerhalb der Region hat. Dass die Vorurteile im katalanischen Fall unzutreffend sind, wurde aber vor allemn vergangene Woche manifest, als nach der Verhaftung von 13 katalanischen Regierungsmitgliedern die andalusische Landarbeitergewerkschaft, die linke Strömung in Podemos sowie die in Basisgewerkschaften organisierten Hafenarbeiter von Barcelona aus Solidarität auf die Straße gingen.

Erpressung der Katalanen

Doch woran liegt es, dass Nationalfahnen in Katalonien so anders besetzt sind? Das war keineswegs immer so. Bis Mitte der 2000er Jahre wurde die Region von der bürgerlichen CIU dominiert, einem Bündnis aus liberalen und christdemokratischen Regionalisten, die einen ähnlichen Kurs wie die CSU in Bayern verfolgte: Man betonte die Identität, suchte ökonomische Vorteile und bediente, wenn nötig, rassistische Ressentiments. Von Unabhängigkeit war hingegen keine Rede. Die Lage änderte sich erst, als – an der regierenden CIU vorbei – eine Basisbewegung entstand. Die Transferzahlungen nach Madrid spielten dabei durchaus eine Rolle, denn anders als im deutschen System setzt der Zentralstaat die Zahlungen der Autonomiegemeinschaften einseitig fest und entscheidet auch über deren Verteilung – meist nach recht klientelistischen Kriterien. Viele Katalanen fühlten sich, vor allem in der Krise ab 2008, ökonomisch benachteiligt. Doch weitaus wichtiger als diese finanziellen Aspekte waren die politischen Erfahrungen mit dem Zentralstaat.

Das Besondere an der Situation in Spanien ist darin begründet, dass die Politik der zentralistischen Rechten die bürgerlichen Katalanen und Basken schon seit 100 Jahren nach links treibt. So kämpften katalanische Republikaner und baskische Christdemokraten im Bürgerkrieg 1936-1939 auf der Seite von Anarchosyndikalisten und Sozialisten. Der katalanische Ministerpräsident Lluis Companys bezahlte das mit seinem Leben: Er wurde 1940 von den Franquisten hingerichtet und ist bis heute nicht rehabilitiert. Und dieser Konflikt schwelt seitdem weiter. Während der Diktatur war die katalanische Sprache verboten, der Verfassungspakt von 1978 kam unter massiven Drohungen zustande. Zwar wurde das in Madrid ausgehandelte Bündnis von Ex-Franquisten und Sozialdemokratie auch von den katalanischen Regionalisten unterstützt, aber ein großer Teil der Bevölkerung registrierte durchaus, dass die Militärs immer wieder mit Putsch drohten, falls Katalanen, Basken oder Linken im Verfassungsprozess zu viele Zugeständnisse gemacht würden.

„Wir wollen entscheiden“

Das ist der Hintergrund, vor dem die Situation in den 2000er Jahren erneut eskalierte. Die damals neu gebildete Mitte-Links-Regierung aus PSOE, Linksrepublikanern und Linksgrünen trieb eine föderale Reform des katalanischen Autonomiestatuts voran, scheiterte mit dem Vorhaben jedoch in Madrid. Zunächst beschnitten die Parteigenossen der PSOE den Entwurf, dann kassierte der Verfassungsgerichtshof das Statut ganz. Als Reaktion darauf gingen 2010 eine Million Menschen unter dem Motto „Wir wollen entscheiden“ auf die Straße, überall in Katalonien entstanden Bürgerinitiativen, die lokale Volksbefragungen zur Unabhängigkeit organisierten.

Diese Grass-Roots-Bewegung trieb die Parteien vor sich her. Die regionalistischen Parteien schwenkten nach einigem Zögern auf den Unabhängigkeitskurs ein. Laut Umfragen befürworten heute 80 Prozent der Bevölkerung ein Referendum, was sowohl die PP als auch die oppositionelle PSOE in Madrid mit aller Macht verhindern wollen.

Republikanische Bewegung

Im Moment ist völlig unklar, wo die katalansiche Bewegung hinführen wird. Der Begriff der „Unabhängigkeit“ besitzt heute alle Eigenschaften eines „leeren Signifikanten“ – jeder projiziert die eigenen Wünsche hinein. Für die Einen geht es um die Anerkennung der katalanischen Kultur und ein Ende des zentralistischen Diktats, eine andere, häufig auch von Bürgerlichen geäußerte Interpretation lautet: „Wie wollen wie ein skandinavisches Land werden“: mehr Sozialpolitik und Teilhabe, weniger Korruption.

Sicher ist jedoch, dass die Verbindung von sozialen Kämpfen und Unabhängigkeitsbewegung die katalanische Gesellschaft ordentlich nach links verschoben hat. Die liberalkonservative CIU ist zerbrochen, der liberale Flügel hat sich als „Demokratische Partei“ neu gegründet. Im Parlament hat die katalanische Rechte linken Gesetzesvorhaben unter dem Druck der Straße zugestimmt. Katalanische Gesetze verbieten heute sowohl Zwangsräumungen als auch den Einsatz von Gummigeschossen durch die Polizei. Und die Regierung verspricht auch, dass nach einer Unabhängigkeitserklärung auf Hunderten Bürgerversammlungen über eine neue Verfassung debattiert werden wird. Das ist aus linker Perspektive enorm interessant, denn laut Umfragen liegen die drei Parteien links der spanischen Sozialdemokratie – die linksrepublikanische ERC, die linksalternativen Comunes und die antikapitalistische CUP – bei knapp 50 Prozent.

Dem „leeren Signifikanten“ sind also durchaus fortschrittliche Forderungen eingeschrieben: Die Bewegung ist republikanisch und eher antifaschistisch, sie will die katalanische Sprache stärken, aber erkennt die Mehrsprachigkeit und kulturelle Diversität der Region an, man wünscht sich mehr lokale Selbstregierung und vor allem mehr Sozialpolitik. Sicher stimmt es auch, dass Letzteres eine Illusion bleiben muss, solange sich am neoliberalen Kurs der EU nichts ändert.

Das „Europa der Regionen“, das in Katalonien auch viele linke AnhängerInnen hat, kann unter den Bedingungen heute kaum mehr sein als ein Modell zur Integration von Grenzregionen und zur Verschärfung von Konkurrenz. Man muss allerdings auch zur Kenntnis nehmen, dass viele Linke in Katalonien und dem Baskenland unter dieser „Regionalisierung“ eher so etwas wie eine Konföderation freier Republiken verstehen. Ein Modell, das durchaus in Verbindung mit der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava diskutiert wird.

Demokratische Rebellion

Selbstverständlich ist das in Anbetracht der Kräfteverhältnisse erst recht eine Utopie. Die bürgerliche Mehrheit wird dafür sorgen, dass ein unabhängiges Katalonien – falls es wirklich dazu kommt – ein ganz normaler Staat der EU wird. Und doch darf man nicht unterschätzen, was in Katalonien gerade geschieht. Auf der einen Seite macht die spanische Rechte mobil. Franquisten demonstrieren geschützt von der Polizei, in manchen Dörfern wird die Guardia Civil verabschiedet, als sei sie auf dem Weg an die Front.

Auf der anderen Seite gibt es eine demokratische Rebellion, die auch von föderalistischen Linken getragen wird. Bauernorganisationen haben Tausend Traktoren in die Städte geschickt, um Wahllokale zu schützen, Universitäten sind besetzt, 720 von 950 BürgermeisterInnen droht das Gefängnis, Zehntausende haben sich der Polizei vergangene Woche spontan in den Weg gestellt. Eine europäische Linke, die nicht erkennt, dass sie diese Bewegung verteidigen muss, hat von den politischen Verhältnissen auf diesem Kontinent nichts begriffen.

Raul Zelik (www.raulzelik.net)