Die Verdingkinder der Schweiz

Foto: Paul Senn, FFV, Kunstmuseum Bern, Copyright GKS

Im Historischen Museum in Frauenfeld beschäftigt sich die Ausstellung „Verdingkinder reden – Enfances volees“ mit einem Stück Schweizer Geschichte, das zu den schwärzesten des Landes zählt. Die Ausstellung will die Erinnerung an die furchtbaren Schicksale dieser  Kinder  wach halten und lässt ehemalige Verdingkinder in ihren sehr persönlichen Berichten erzählen, was ihnen in jungen Jahren widerfahren ist.

Im Zusammenhang mit einem Forschungsprojekt wurden während der letzten Jahr über 300 Interviews mit Heim- und Verdingkindern und deren sogenannte „Fremdplatzierungen“ in der Deutschschweiz und der Romandie geführt  Ein Teil dieser bedrückenden Hördokumente steht im Zentrum der Ausstellung, die noch bis Mitte Oktober gezeigt wird.

Kaum vorstellbar, was noch bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts mit Kindern in der Schweiz geschah, die meist Scheidungs- oder Waisenkinder waren und als Verdingkinder eine elende Kindheit erleben mussten. Bereits ab Anfang des 19. Jahrhunderts wurden diese Kinder auf einem „Verdingmarkt“ versteigert. Wer am wenigsten Kostgeld verlangte, bekam ein Verdingkind.

Oft befanden sich sogar Kleinkinder darunter, die ihren Eltern von den Behörden willkürlich entrissen wurden und die man wie Vieh behandelte. In der Regel landeten sie bei Bauern, die sie als billige Arbeitskräfte einsetzten. Es gab weder Taschengeld noch Lohn, mit Glück einen Teller Suppe und ein Stück altes Brot. Nicht selten mussten diese zerstörten Seelen bis zu 18 Stunden am Tag arbeiten, dazu gab es Prügel und Demütigungen aller Art. Gehalten wurden sie wie Leibeigene oder entrechtete Zwangsarbeiter. Nur wenige hatten während dieser Zeit die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen.

Auch sexueller Missbrauch war an der Tagesordnung. Die Täter wurden dafür fast nie bestraft, sie konnten mit den Verdingkindern tun und lassen, was sie wollten. Gingen die Behörden wirklich mal gegen besonders brutale „Pflegeeltern“ vor, wurde jenen für maximal fünf Jahre verboten, neue Verdingkinder bei sich aufzunehmen. Ein schwacher Trost für die gedemütigten Opfer.

Über die genaue Anzahl der Verdingkinder existieren unterschiedliche Angaben. Manche sprechen von Hunderttausenden, die bis in die 1960er-Jahre ein Sklavendasein erleiden mussten. Bis zum Ersten Weltkrieg, so genauere Forschungen des Historikers Marco Leuenberger, sollen alleine im Kanton Bern rund 10 Prozent aller Kinder unter 14 Jahren verdingt worden sein. Heute noch leben in der Schweiz mindestens 30.000 ehemalige Verdingkinder, die zum Teil mit massiven psychischen Problemen zu kämpfen haben. Bislang hat sich die Schweizer Regierung bei ihnen weder entschuldigt noch finanzielle Entschädigungen für das erlittene Unrecht in Aussicht gestellt.

Auch in Deutschland gab es einen vergleichbaren Kindesmissbrauch. Ebenfalls ab dem 19. Jahrhundert und bis weit in die 1920er-Jahre hinein brachte man Bauernkinder vor allem aus Vorarlberg und Tirol über die Alpen. Viele wurden meist zur Winterzeit über die verschneiten Gebirgsketten nach Oberschwaben geschleust. Einige überlebten die Strapazen nicht und starben völlig entkräftet schon während des Transports. Die Überlebenden landeten auf oberschwäbischen Kindermärkten und mussten als „Schwabenkinder“ ähnliche Schicksale erleiden wie die Verdingkinder in der Schweiz.

Die Ausstellung im Historischen Museum Thurgau im Schloss Frauenfeld ist sehenswert und noch bis zum 16.10.2011 geöffnet.

Tipp: Ab 03. November 2011 kommt der Film von Markus Imboden „Der Verdingbub“ in der Schweiz in die Kinos.

 

Autor: H.Reile

 

Kinder in der Erziehungsanstalt Sonnenberg bei der Arbeit. Foto: Paul Senn, FFV, Kunstmuseum Bern, Copyright: GKS