Direkte Demokratie: Eine Antwort aus der Schweiz

Gestern hatte Dennis Riehle auf seemoz seine diskussionwürdigen Ansichten zur „direkten Demokratie“ und zu Schweizer Volksinitiativen vorgetragen. Die Klarstellung aus Schweizer Sicht folgt prompt. Doch lesen Sie selbst:

Selbstverständlich darf Dennis Riehle finden, man sei mit einer repräsentativen Demokratie besser dran als mit der halbdirekten der Schweiz. Aber man sollte keine Gegensätze konstruieren, wo keine sind und es wäre schön, wenn die Argumentation nicht so penetrant nach „die Stimm-/Wahlberechtigten sind zu dumm für solche Entscheidungen“ riechen würde.

Vorausschicken muss man, dass die Schweiz eine halbdirekte und keine direkte Demokratie ist. Halbdirekt deshalb, weil keineswegs das „Volk“ alles entscheidet. In der Regel entscheidet – wie in Deutschland auch – das gewählte Parlament (also schon mal kein Gegensatz). Die Stimm-/Wahlberechtigten haben aber zusätzlich die Möglichkeit a) selbst Volksinitiativen zu lancieren und b) zu umstrittenen Gesetzen Stellung zu nehmen. Denn auch in der Schweiz gibt es „Vertreter, die in oftmals langwierig und träge erscheinenden Abwägungsprozessen zu einer Meinung kommen“. Deren Meinung aber deshalb weder gescheiter noch dümmer ist, als die der Stimmberechtigten.

Das Problem bei Schweizer Volksinitiativen ist, dass die Schweiz kein Verfassungsgericht besitzt, das Initiativbegehren auf Verfassungskonformität prüft. Das wäre auch schwierig, weil angenommene Volksinitiativen in der Schweiz prinzipiell Teil der Verfassung werden, diese also ändern. Deshalb muss auch nicht nur eine Mehrheit der Abstimmenden, sondern auch eine Kantonsmehrheit zustimmen. (Bei Abstimmungen zu parlamentarisch erarbeiteten Gesetzen reicht eine Mehrheit der Abstimmenden).

Für Deutschland müssten aber zuerst einmal die Bedingungen für Volksabstimmungen festgelegt werden. Beispielsweise wieviele Bürger müssen denn eine Volksabstimmung fordern? Eine Million? Dann müsste definiert werden, wann und wie Volksabstimmungen möglich sein sollen. Das wäre allein schon ein weites Feld: Volksinitiativen wie in der Schweiz, deren Anliegen prinzipiell Verfassungsrang haben und deren Ausführung per Gesetz geregelt wird, das vom Parlament verabschiedet wird? Oder ausformulierte Volksinitiativen, die direkt Gesetz werden, aber nicht in der Verfassung landen? Oder nur Entscheidungen über vom Parlament beratene und verabschiedete Gesetze (nennt sich in der Schweiz „Referendum“)?

Dann könnten/müssten bestimmte Kriterien bestimmt werden, wann Volksbegehren ungültig sind bzw. wozu sie nicht eingereicht werden dürfen. In der Schweiz gilt das z.B. für das zwingende Völkerrecht . Das war übrigens der Grund, weshalb die von Dennis Riehle angeführte Todesstrafen-Initiative eben nicht lanciert wurde. „Es fehlte nicht viel und die Schweizer hätten votiert“ ist zumindest in diesem Fall falsch.

„Nein, wir finden nicht als Einzelne die Lösung. Das übernehmen die, denen wir zutrauen, mit Verstand und Überlegtheit erst dann zu entscheiden, wenn die Positionen gewälzt und die Vor- und Nachteile abgewogen wurden.“ In einer Demokratie – ob halbdirekt oder repräsentativ – finden nie „Einzelne“ die Lösung. Das wäre Diktatur. Die Frage ist doch nur, ob derzeit über 700 Bundestagsabgeordnete immer über mehr „Verstand und Überlegtheit“ verfügen, als eine Mehrheit abstimmender BürgerInnen. Natürlich können die anfällig für Populismus sein – aber sind das Abgeordnete nicht auch? Natürlich versuchen Interessengruppen Einfluss auf Volksabstimmungen zu nehmen – aber sind Lobbygruppen etwa im Parlamentarismus nicht doch sehr erfolgreich tätig? Man denke nur an Gesetzesvorlagen während der vergangenen Legislatur, die direkt aus der Feder bestimmter Interessengruppen stammten. Hatten die Abgeordneten, die sich ja angeblich so lange und intensiv und kenntnisreich mit schwierigen Themen beschäftigen, das bemerkt? Nein, hatten sie nicht.

Ausserdem: Bundestagsabgeordnete stammen aus der Bevölkerung, die sie wählt. Wieso sollte diese Bevölkerung im Durchschnitt dümmer sein, als die Abgeordneten? Wo bleibt denn da das bürgerliche Selbstbewusstesein? Dieser Glaube daran, dass „die da oben“ es letztlich doch besser machen werden, als „die da unten“ scheint mir sehr obrigkeitsgläubig.

Nein, halbdirekte Demokratie ist kein Allheilmittel. Sie garantiert niemandem Entscheidungen nach seinem Gusto. Weder Linken noch Rechten noch „Eingemitteten“. Und sie kann dem Parlament gesetzliche Knacknüsse bescheren – wie z.B. dem Schweizer Parlament nach der Annahme der unsäglichen „Masseneinwanderungs-Initiative“, die nun nur sehr moderat umgesetzt wird. Aber sie kann auch den Initianten auf die Füsse fallen, wie die (ausländerfeindliche) „Durchsetzungsinitiative zur Ausschaffungsinitiative“, die klar abgelehnt wurde, nachdem ein Jahr zuvor eben die Masseneinwanderungs-Initiative noch angenommen worden war. Da wird auf der einen Seite eine Steuerreform abgelehnt, die Unternehmen stark begünsigt hätte, andererseits findet auch ein Grundeinkommen keine Gnade. Da werden Moorschutz und Alpenschutz angenommen – aber auch der Bau eines zweiten Strassentunnels durch den Gotthard.

Volksabstimmungen bringen weder eine prinzipiell bessere noch prinzipiell schlechtere Politik zustande – wobei man „besser“ und „schlechter“ noch definieren müsste. Die Entscheidungen sind auch weder dümmer noch gescheiter als die eines Parlamentes. Aber sie sorgen dafür, dass die BürgerInnen eines Staates direkter an dessen Entscheidungen beiteiligt sind, die sie schliesslich auch mit tragen und mit bezahlen – und, dass Abgeordnete sich schon bei Gesetzesvorhaben überlegen müssen, ob diese auch von einer Bürgermehrheit akzeptiert werden oder nur von einer Mehrheit von Interessengruppen.

L. Schiesser