Liegt das Heil wirklich in der direkten Demokratie?

Kaum ein politisches Konzept erfreut sich derzeit so breiter Beliebtheit wie das der direkten Demokratie. Fast alle schwärmen davon: die Linken, die Sozialisten, die Sozialliberalen, die Moderaten, die Liberalen, die Konservativen, die gemäßigten und sogar die extremen Rechten. Grund genug, die auf seemoz begonnene Diskussion fortzuführen.

So viel Begeisterung aus allen Richtungen sollte jedermann wenn schon nicht misstrauisch, so doch wenigstens nachdenklich machen. Ist wirklich alles Heil von der direkten Demokratie zu erwarten? Außer den amtierenden Politikern, für die das System der repräsentativen Demokratien einfach eine fabelhafte Sache ist, in dem sie geschäftig paradieren und die eigene Versorgung organisieren können, spricht heute kaum noch jemand ernsthaft davon, dass wir eine lebendige, funktionierende Demokratie haben. Deshalb gibt es fast nur noch Leute, die das Heil in der direkten Demokratie suchen. Aber werden sie es finden?

Direkte Demokratie in Reinkultur?

Zunächst einmal bleibt festzuhalten: Eine direkte Demokratie in Reinkultur gibt es nirgends und hat es nirgends je gegeben. Ob es die bei den in der Steinzeit streunenden Jäger- und Sammlerhorden je gab, ist irrelevant und wohl auch unwahrscheinlich. Auch die vielzitierte Attische Demokratie war keine Demokratie im modernen Sinn.

Starke Elemente direkter Demokratie gibt es heute nur in einigen amerikanischen Bundesstaaten wie California oder Oregon und vor allem in der Schweiz. Aber auch dort herrscht ein Mischsystem: Das politische System der Schweiz ist bestenfalls eine halbdirekte Demokratie, in der das Volk zu einem gehörigen Teil auch durch das gewählte Parlament und seine Abgeordneten repräsentiert wird. Auch in Deutschland steht nur der Gedanke zur Diskussion, das bestehende schwerfällige System der repräsentativen Demokratie durch einige Elemente der unmittelbaren Demokratie aus dem Tiefschlaf zu wecken.

Die Schweizerinnen und Schweizer wählen alle vier Jahre ihr Parlament und stimmen seit gut 150 Jahren im Schnitt drei- bis viermal pro Jahr als letzte politische Instanz über diverse Sachfragen auf allen Ebenen ab – in der Gemeinde, im Kanton und auf Bundesebene. Das übrigens kann gar nicht genug betont werden: Es geht in allen funktionierenden direkten Demokratien stets darum, das Volk an Sachentscheidungen zu beteiligen, nicht an Direktwahlen.

Die direkte Demokratie taugt nicht für Personalentscheidungen

Den inhaltlich zutreffendsten Ausdruck zur Bezeichnung direkter Demokratie benutzt heute kaum jemand: Man spricht von sachunmittelbarer Demokratie, um ganz deutlich zu machen, dass Personalentscheidungen – also Wahlen – nicht zu den Charakteristiken einer lebendigen direkten Demokratie gehören. Personalentscheidungen werden von bundesdeutschen Politikern besonders gern und oft herangezogen, um den Nachweis zu erbringen, dass diese wagemutigen Speerspitzen des demokratischen Fortschritts nun dabei sind, „mehr Demokratie zu wagen“. Dabei tun sie das genaue Gegenteil, indem sie wahre Demokratie plebiszitär verfälschen.

Die Vielzahl der Nachteile von repräsentativen Demokratien und das Übergewicht der Eigeninteressen und des Eigenlebens der Repräsentanten sind in der Schweiz zwar abgemildert. Aber sie sind gleichwohl wirksam. Die politische Kaste, die in den entwickelten repräsentativen Demokratien vom Volk losgelöst ihr Eigenleben führt und ihre Eigeninteressen durchsetzt, wird in der Schweiz so einigermaßen wirksam in Schach gehalten. Aber mehr auch nicht.

Eine Mehrheit des Volks und der Kantone muss jede Verfassungsänderung durch ein obligatorisches Referendum gutheißen (Volks- und Ständemehr). Das bedeutet: Damit eine Abstimmungsvorlage angenommen wird, muss in bestimmten Fällen zusätzlich zur Mehrheit der Bürger auch die Mehrheit der Stände, also der Kantone, zustimmen. Darüber hinaus gibt es das Volksreferendum und die Volksinitiative. Durch ein Referendum können die Schweizer aktiv in den Gesetzgebungsprozess eingreifen. Sie haben das Recht, über Parlamentsbeschlüsse nachträglich abzustimmen und sie zum Beispiel abzulehnen. Davor ist kein Parlamentsbeschluss sicher.

Obligatorisch müssen Volk und Stände abstimmen über Änderungen der Bundesverfassung; über den Beitritt zu internationalen Organisationen; über für dringlich erklärte Bundesgesetze, die keine Verfassungsgrundlage haben und deren Geltungsdauer ein Jahr übersteigt. Über diese Bundesgesetze müssen die Stimmberechtigten innerhalb eines Jahres nach deren Annahme durch die Bundesversammlung entscheiden.

Mehrheit für die Mehrwertsteuer?

Viele Bestimmungen in der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft müssen regelmäßig angepasst werden, wie zum Beispiel die Zinssätze der Mehrwertsteuer. Auch Vorschläge zum Beitritt der Schweiz zu supranationalen Strukturen müssen dem Stimmvolk vorgelegt werden und die doppelte Mehrheit von Volk (Volksmehr) und Kantonen (Ständemehr) erhalten, um überhaupt in Kraft zu treten.

Das fakultative Referendum kann gegen alle Gesetze oder Gesetzesänderungen ergriffen werden. Damit das Volk nachträglich über einen Entscheid des Parlaments entscheiden kann, müssen das mindestens 50.000 Personen bis spätestens 100 Tage nach Publikation des entsprechenden Textes mit ihrer Unterschrift bei der Bundeskanzlei verlangen.

Dafür braucht ein fakultatives Referendum nur eine einfache Mehrheit des Stimmvolks. Mit ihrer Unterschrift können 100.000 Stimmberechtigte innerhalb von 18 Monaten durch eine Volksinitiative verlangen, dass die Verfassung in einzelnen Punkten geändert wird.

Bevor die Änderungen in Kraft treten, durchläuft jede Volksinitiative einen mehrstufigen Prozess. Wird das Begehren für gültig erklärt, berät zuerst der Bundesrat über dessen Inhalt, danach die eidgenössischen Räte. Handelt es sich um eine umstrittene Vorlage, die das Parlament spaltet, kann sich dieser Prozess über einige Jahre hinziehen.

In manchen Fällen erarbeiten die Räte einen direkten Gegenvorschlag, der als Alternative zur ursprünglichen Forderung der Initiative gemeinsam mit dieser zur Abstimmung kommt. Das Stimmvolk kann dann entscheiden, welche Version umgesetzt werden soll. Um angenommen zu werden, benötigen sowohl Volksinitiative wie der Gegenvorschlag das doppelte Mehr (Volk und Stände).

Das Parlament kann sich aber auch für einen indirekten Gegenvorschlag aussprechen, der auf Gesetzesebene geregelt wird. Dann kommt lediglich die Volksinitiative zur Abstimmung. Wird sie abgelehnt, kommt automatisch der Gegenvorschlag zum Zug. Es sei denn, gegen diesen wird erfolgreich das Referendum ergriffen. Es kann aber auch vorkommen, dass das Initiativkomitee mit dem Gegenvorschlag einverstanden ist und seine Volksinitiative zurückzieht.

440 Volksinitiativen

Seit ihrer Einführung in die Bundesverfassung 1891 wurden bis heute insgesamt 440 Volksinitiativen ergriffen. Von den 317 formell zu Stande gekommenen Volksinitiativen kamen 203 an die Urnen. 4 wurden für ungültig erklärt, 2 wurden abgeschrieben und 94 zurückgezogen.

Volk und Stände haben insgesamt nur 22 Volksinitiativen angenommen. Die allererste war 1893 übrigens die antisemitische Volksinitiative „für ein Verbot des Schlachtens ohne vorherige Betäubung“ (Schächtverbot).

Einige der jüngsten Volksinitiativen haben über die Schweiz hinaus Aufsehen erregt: die Eidgenössische Volksinitiative „gegen den Bau von Minaretten“ (2009), die Initiative „für die Durchsetzung der Ausschaffung [= Abschiebung] krimineller Ausländer“ (2016), die Initiative „Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen“ (2012), „gegen die Abzockerei“ (2013), die Initiativen „gegen Masseneinwanderung“ und die Volksinitiative „Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen“ (beide 2014).

Die Zahl angenommener Volksinitiativen hat jedoch in den letzten Jahren zugenommen, das Instrument erfreut sich heute offensichtlich größerer Beliebtheit als früher. Während zwischen 1891 und 2003 nur 13 Initiativen angenommen wurden, waren es zwischen 2004 und 2016 immerhin schon 9.

Zwischen 1848 und 2016 wurden in der Schweiz insgesamt 178 fakultative Referenden zur Abstimmung zugelassen. 100 wurden angenommen, das Stimmvolk lehnte das bekämpfte Gesetz also ab. Die anderen 78 Referenden wurden abgelehnt. Im selben Zeitraum wurden von 218 obligatorischen Referenden 163 von Volk und Ständen angenommen, während die restlichen 55 abgelehnt wurden.

Referenden und Volksinitiativen erzeugen eine eigentümliche Wechselwirkung im politischen System der Schweiz. Referenden bremsen Parlamentsentscheide eher, die Volksinitiativen beschleunigen sie dagegen bei allen Fragen, die das Parlament nicht behandeln will. Die Volksinitiativen bieten politischen und sozialen Bewegungen die Möglichkeit, Mehrheiten für ihre Anliegen zu gewinnen.

Schweizer Ziel ist der Konsens

Mit der Gefahr eines Referendums vor Augen arbeiten Regierung und Parlament meist auf einen möglichst breiten Konsens hin, wenn sie ein Gesetz durchbringen wollen. Man muss immer damit rechnen, dass die Unzufriedenheit über einen beschränkten Kreis hinausgeht und dann besteht die Gefahr, dass das Volk ein Projekt ablehnt.

Angelegt in diesem System ist eine Kultur des Konsenses und des Kompromisses, die sich in dem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen „Kuhschweizern“ und „Sauschwaben“ (= Deutschen) niederschlägt.

Die Sauschwaben hauen drauf, setzen sich aggressiv durch und drohen immer gleich mit dem Einmarsch der Kavallerie. Die Schweizer suchen stets den Konsens und den Kompromiss und verhalten sich konziliant im Umgang auch mit Vertretern entgegengesetzter Standpunkte. Beide verstehen nicht wirklich, was in den Köpfen der anderen vorgeht.

Volksinitiativen bringen Themen zur Sprache, die im Parlament erst gar nicht erörtert werden. Und mitunter bekommen einige Initianten ihre Ideen oder Teile davon durch einen Gegenvorschlag des Parlaments erfüllt. Im Idealfall ergänzen Volk und Parlamentarier einander.

In seltenen Fällen erhält eine Volksinitiative, die von der Mehrheit des Parlaments abgelehnt wurde, aber auch in der Abstimmung das doppelte Mehr. So die von dem parteilosen Unternehmer Thomas Minder eingereichte „Abzocker-Initiative“, die es Aktionären erlaubt, die Gehälter von Topmanagern zu begrenzen. Sie wurde 2013 mit 68 Prozent der Stimmen und von allen Kantonen angenommen.

In einer Demokratie nach Schweizer Muster sind neue Gesetze im Allgemeinen breit abgestützt, aber sie verlangsamt mitunter auch die Prozesse der politischen Willensbildung durch den eingebauten Zwang zum Kompromiss. Alle Beteiligten verzichten deshalb darauf, auf umstrittenen Punkten zu beharren, damit nicht die ganze Gesetzesvorlage scheitert. In dem System werden auch Minderheiten oder gar die politischen Gegner nicht einfach untergebuttert.

Als in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt werden sollte, stimmte das Parlament der Vorlage recht früh, nämlich im Jahr 1959, zu. Es setzte sich zeitgemäß für den demokratischen Fortschritt in der Gesellschaft ein. Aber eine Mehrheit der noch allein stimmberechtigten Männer lehnte sie anschließend in einem Referendum ab. Es dauerte dann weitere 12 Jahre, bis 1971 die Männer sich gnädig dazu herabließen, ihren Frauen das Stimmrecht zu gewähren. Das Schweizer Frauenwahlrecht ist also eine verspätete Gnadengabe der wackeren Schweizer Männer.

Das Volk ist vor blödsinnigen Entscheidungen nicht gefeit

Die direkte Demokratie sollte man jedenfalls nicht blind verherrlichen. Auch das direkt entscheidende Volk ist vor blödsinnigen Entscheidungen nicht gefeit. Aber die Eigeninteressen der Repräsentanten und ihre vielfältigen Verstrickungen in Seilschaften mit Lobbyisten spielen in einer direkten Demokratie bei Entscheidungen bei weitem nicht eine so zentrale Rolle wie in einer rein repräsentativen Demokratie. Die Repräsentanten verzerren darin nicht den Volkswillen – und allein das ist ein gewaltiger Vorzug.

Auch das verfassungsgemäß gebotene „doppelte Mehr“ begünstigt oft die kleineren, meist eher konservativen Kantone. Eklatant geschah das 1992, als die Schweizerinnen und Schweizer über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zu befinden hatten. Gegner und Befürworter erzielten zwar nahezu die gleiche Stimmenzahl, eine erdrückende Mehrzahl der Kantone (16 zu 7) lehnte jedoch den Beitritt ab. Jede Reform des Systems muss auch von den kleinen Kantonen gutgeheißen werden. Und die sind kaum geneigt, auf ihre Gleichbehandlung bei Abstimmungen zu verzichten.

In einer direkten Demokratie haben die politischen Parteien gewöhnlich deutlich weniger Macht als in einer repräsentativen Demokratie. Das ist ein gewaltiger Vorteil. Die Bestechung von Politikern oder die Ausnutzung von persönlichen Beziehungen kommt in der direkten Demokratie kaum vor, da das Volk Entscheidungen leicht aufheben kann. Die undemokratischen Auswirkungen der Fünf-Prozent-Hürde auf die Regierungsbildung werden unwichtiger. Gegenseitige Blockaden wie die von Bundestag und Bundesrat in Deutschland sind ebenfalls wegen der Möglichkeit von Volksentscheiden stark eingeschränkt.

Sicherlich ist es ein großer Vorteil, dass die Bevölkerung wesentlich effektiver und schneller über aktuelle Gesetzesentwürfe mitentscheiden kann. Für Lügen und haltlose Versprechungen im Wahlkampf, die in allen repräsentativen Demokratien fester Bestandteil der politischen Folklore sind, ist in einer direkten Demokratie kaum Platz; denn die Bürger können Gesetzentwürfe jederzeit ablehnen. Die Politik ist gut beraten, von vornherein auf lügenhafte leere Versprechungen zu verzichten.

Die politische Kultur der direkten Demokratie bestärkt ihre Bürger in der Gewissheit, dass sie bei Entscheidungen ein gewichtiges Wort mitzureden haben und ihre Meinung Gewicht hat. Das ist schon etwas sehr grundlegend anderes als die Erkenntnis, dass man alle vier Jahre zur Wahl gehen und über die vorfabrizierten Kandidatenlisten politischer Parteien entscheiden darf. Die ins System der repräsentativen Demokratie eingebaute „rationale Ignoranz“, die sich in politischer Apathie und progressiv sinkender Wahlbeteiligung manifestiert, spielt in der direkten Demokratie kaum eine Rolle.

Der Schweizer Bundesrat Arnold Koller beschreibt die Situation so: Unserer direkten Demokratie „kommt meines Erachtens eine wachsende Bedeutung zu für unsere nationale Identität. Durch Volksabstimmungen über wichtige Sachfragen erlebt sich die Schweiz fast permanent als politische Gemeinschaft und Nation. Selten nehmen wir die Stimmung in den anderen Landesteilen so deutlich wahr wie an Abstimmungswochenenden. Die direkte Demokratie ist also weit mehr als ein Verfahren zur Entscheidungsfindung, sie macht die Schweiz für die Bürgerinnen und Bürger erfahrbar. Sie verhindert auch, dass politische Konflikte unter den Teppich gekehrt werden. Nichts hält unser Land mehr zusammen als unsere direkte Demokratie.“

Die direkte Demokratie führt vor allem auch dazu, dass die breite Bevölkerung die politischen Entscheidungen akzeptiert, in die Entscheidungsprozesse eingebunden ist und sich auch aktiv mit den Argumenten der Gegenseite vertraut macht. Grundsätzlich dürfte es auch für unterlegene Minderheiten leichter sein, das Urteil einer Mehrheit der Bürger zu akzeptieren als nur das Urteil der Mehrheit von 200 National- und 46 Ständeräten.

Selbst über Steuern und Finanzen stimmen die Schweizer ab

Da die Bürger verantwortliche Entscheidungen mittragen, sind sie eher bereit, sich in der Politik zu engagieren. Die Schweizerinnen und Schweizer kontrollieren über die Steuern sogar die Staatsfinanzen und verhalten sich dabei wider Erwarten und allen Unkenrufen über die Unfähigkeit der Bürger zum Trotz erstaunlich verantwortungsbewusst. Auf jeden Fall verantwortungsbewusster und gemeinwohlorientierter als die gewählten Abgeordneten in repräsentativen Demokratien.

In repräsentativen Demokratien ist ja die Überzeugung weit verbreitet, das Wahlvolk sei zu blöd oder zu eigensüchtig, um verantwortungsbewusst über öffentliche Finanzen zu entscheiden. Das Gegenteil ist wahr: Die gewählten Repräsentanten hantieren verantwortungslos mit den ihnen anvertrauten Geldern. Den Bürgern in der Schweiz kann man diesen Vorwurf nicht machen.

Während die Repräsentanten in den repräsentativen Demokratien halt- und schamlos das Geld der Bürger fehlleiten und verprassen, erlegt sich das Schweizer Volk durchaus Zurückhaltung auf. In den Worten des früheren Nationalrats Heinz Allenspach: „Politiker denken zu oft nicht in Generationen; ihr Gesichtsfeld umfasst höchstens eine vierjährige Legislaturperiode. … Wichtiger ist ihnen das Heute und die Zeit bis zu den nächsten Wahlen.“

Die beiden Schweizer Experten für ökonomische Glücksforschung, Bruno S. Frey und Alois Stutzer, lieferten 1999 erstmals empirische Belege für ihre These, dass direkte Demokratie nicht nur eine Reihe politischer und demokratiebezogener Vorteile hat, sondern eine viel umfassendere positive Wirkung mit sich bringt. Aus einem Vergleich der 26 Kantone schlussfolgerten sie: Direkte Demokratie macht die Leute glücklich!

Frey und Stutzer führen die höhere Lebenszufriedenheit – ihr Indikator für individuelles Glück – in stark direkt-demokratischen Kantonen auf zwei Faktoren zurück. Erstens erhöht die direkte Demokratie die Kontrolle über den politischen Prozess. Deshalb liegen die politischen Ergebnisse näher an den Präferenzen der Bevölkerung. Die Zufriedenheit mit den demokratischen Resultaten steigert auch das persönliche Glücksgefühl. Zweitens erhöht die pure Tatsache, dass Bürgerinnen und Bürger direkt am politischen Prozess teilnehmen können, deren Lebenszufriedenheit.

Kein Zweifel: Auch das Schweizer Mischsystem ist keine Insel der Seligen. Es ist jedoch ein Modell, das viele Schwächen der repräsentativen Demokratien nicht hat. Aber natürlich ist auch dieses System nicht unfehlbar. Fehlentscheidungen gibt es auch da. So hat 2014 eine Volksinitiative im Aargau durchgesetzt, dass die Kinder in den Kindergärten fortan nur noch Mundart und kein Schriftdeutsch sprechen dürfen. Ein Rückfall in finsterste Provinzialität und für Kinder, die später einmal den Aargau verlassen werden, eine Garantie für Rückständigkeit.

Allerdings sollten die Völker in repräsentativen Demokratien nicht gar zu viel Hoffnung in Elemente der direkten Demokratie setzen. In der Schweiz sind diese Modelle in geografisch kleinen Räumen und über einen jahrhundertelangen Prozess sehr organisch gewachsen. Man kann sie einem durch und durch repräsentativen System nicht einfach aufpfropfen. Doch genau das versuchen einige Politiker neuerdings und ohne Sinn und Verstand.

Das geht auch deshalb nicht, weil jede Variante von direkter Demokratie die Macht der politischen Repräsentanten einschränkt. Das werden die nicht freiwillig mit sich machen lassen. Dagegen wehren sie sich mit aller Macht.

Das erlebt man, wenn man mit den politischen Repräsentanten der politischen Parteien in Deutschland diskutiert. Plötzlich verteidigen diese so konziliant demokratisch gesonnen erscheinenden Menschen mit größter Energie das repräsentative System. Der Grund ist leicht zu erkennen, jedes Element einer ernst zu nehmenden direkten Demokratie beschneidet die politische Macht der Repräsentanten. Es wäre naiv zu glauben, dass die das mit sich geschehen lassen, weil sie so gutherzig „mehr Demokratie wagen“ wollen. Natürlich verteidigen sie jedes Fitzelchen ihrer Macht und ihrer Privilegien.

Scheinaktionen als Karneval der Lächerlichkeit

Selbst wenn sie Formen der direkten Demokratie einführen, dann führen sie mit Garantie eine politische Schweinerei damit im Schilde und nutzen die als reine Akklamationsveranstaltungen für sich selbst und ihre Politik – so wie die SPD das oft gemacht hat, zuletzt bei der Abstimmung über den Koalitionsvertrag.

Seit einigen Jahren meinen die Parteiführungen, sie könnten den Niedergang ihrer politischen Parteien noch mit Scheinaktionen in direkter Demokratie aufhalten. Das endet in aller Regel in einem Karneval der Lächerlichkeit, weil die Parteiführungen nicht das geringste Interesse daran haben, wirklich demokratische Willensbildung in die politische Welt zu setzen. Was sie brauchen, ist etwas, das möglichst demokratisch aussieht, ansonsten aber den Gang der Dinge möglichst so belässt, wie er schon immer war.

So startete die SPD 2011 im thüringischen Landkreis Gotha einen Feldversuch mit Bürgerbeteiligung. Und der ging so: Alle Kandidaten für politische Ämter sollten durch Wahlen bestimmt werden, an denen sich auch Nichtmitglieder der Partei beteiligen durften. Die Menschen konnten vier Monate lang entscheiden, wer für die SPD als „Bürgerkandidat“ bei der Landratswahl im Frühjahr 2012 antreten sollte. Das Ergebnis war niederschmetternd: Der „Sieger“ bekam 14 von 18 abgegebenen Stimmen der insgesamt 120.000 Wahlberechtigten. Der „Feldversuch“ war eine einzige Blamage.

Die Parteien können noch so eindrucksvolle Verrenkungen machen: Die Leute gucken noch nicht mal richtig hin. Die Bevölkerung interessiert sich nicht länger dafür, wie die Kandidatinnen und Kandidaten der politischen Parteien aufgestellt werden. Sie trauen den Parteien sowieso nicht mehr. Und die von den Parteiführungen von oben verordnete „Urdemokratie“ stellt noch nicht einmal eine ordentliche Karikatur von Demokratie dar. Eher schon eine Verhohnepipelung der Wähler.

Direkte Demokratie bedeutet nämlich überall dort, wo sie funktioniert, dass die Bürger an politischen Sachentscheidungen mitwirken und nicht über irgendwelche Personalien befinden. Einfach gesagt, geht es ja bei Personalentscheidungen im Wesentlichen darum, ob die Wähler den einen oder anderen Kandidaten sympathisch finden, ob sie ihn „mögen“.

Das ist politisch einigermaßen belanglos, weil bei der Entscheidung auch persönliche Eigenschaften des Kandidaten wie Aussehen, Ausstrahlung, nettes Lächeln, sympathisches Gesicht, Image eine Rolle spielen. Genau das ist der Grund, weshalb die SPD bei ihren Versuchen in „Urdemokratie“ die Bürger immer nur bei Personalentscheidungen befragt. Dabei besteht nämlich in den seltensten Fällen die Gefahr, dass die Bürger sich in Gegensatz zur Parteiführung setzen. Und genau das sollen sie ja nicht. Sie sollen nur das Stimmviech abgeben.

Die windige Rechnung der SPD

Lächerlich sind auch die neuerdings vieldiskutierten Versuche, die Parteimitglieder zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung zu mobilisieren. So kürte die baden-württembergische SPD im November 2009 ihren Parteivorsitzenden in einer Urwahl. Dabei setzte sich Nils Schmid mit 46 Prozent der abgegebenen Stimmen gegen zwei Mitbewerber durch und ließ sich als strahlender Sieger in einer urdemokratischen Veranstaltung feiern, zu der immerhin die 39 275 Mitglieder der SPD in Baden-Württemberg aufgerufen waren. Seine beiden Konkurrenten lagen mit rund 29 und 23 Prozent weit hinter ihm.

Jedes Parteimitglied durfte mit der Erststimme den Erstwunsch und mit einer Zweitstimme den Zweitwunsch angeben. Da keiner der drei Kandidaten die absolute Mehrheit der Erststimmen erzielte, wurden die Zweitstimmen der Wähler, die mit der Erststimme also den Drittplatzierten gewählt hatten, auf den Erstplatzierten Schmid und den Zweitplatzierten aufgeteilt. Nach dieser ebenso kunstvollen wie windigen Rechnung kam Schmid auf 56 Prozent der Stimmen. Das klang noch mehr nach Sieg. Wenn man richtig in den Zahlen herumrührt, lässt sich jede Blamage noch in einen strahlenden Sieg umrechnen.

Doch tatsächlich stimmten überhaupt nur 48 Prozent aller SPD-Mitglieder (rund 18 700) ab, das heißt, die Mehrheit (fast 21.000) nahm gar nicht erst teil. Von den teilnehmenden Parteimitgliedern bekam Schmid 46 Prozent, also weniger als die Hälfte. Das waren etwas über 8.000 Stimmen. Von fünf Parteimitgliedern hat also gerade mal ein einziges ihn gewählt. Vier haben das nicht getan. Die überwiegende Mehrheit.

Und weil das nun einmal mit der fabelhaften Rechnerei so hervorragend funktionierte, hat er es 2011 gleich noch einmal ausprobiert. Diesmal wurden die Mitglieder der Partei zum Koalitionsvertrag mit den Grünen befragt. Und wieder kam es zum selben Spiel: Fast 25 000 Mitglieder gaben erst gar nicht ihre Stimme ab, 14 067 taten es, und von denen waren 12 795 dafür. Damit beteiligten sich an der überwiegend per Brief durchgeführten Befragung gerade mal 37 Prozent der SPD-Mitglieder im Land. 63 Prozent beteiligten sich nicht. Und Schmid vermeldete stolz: „Das sind rund 92 Prozent Zustimmung für den Koalitionsvertrag.“

Für die Parteiführungen sind diese Persiflagen auf richtige Wahlen ein nützliches Instrument. Sie lassen sich nach Belieben instrumentalisieren. Es bedarf nur einfacher Rechenkunststücke, und schon kommt das Richtige dabei heraus. Erich Honecker hat auch so ähnlich gerechnet. Schmid war übrigens bis März 2016 Wirtschafts- und Finanzminister von Baden-Württemberg, und man mag sich gar nicht vorstellen, was der sonst so zusammengerechnet hat…

Man erkennt mit einem Schlag: Selbst erz- und urdemokratisch erscheinende Wahlen und Abstimmungen sind nichts weiter als plump irreführende Techniken zur Besetzung von Führungspositionen in den Händen der politischen Machtelite. Sie haben eine lediglich akklamatorische Funktion und dienen ausschließlich dazu, längst getroffenen Entscheidungen im Nachhinein auch noch den Segen der Mitglieder zu verleihen und ihnen ein demokratisches Mäntelchen umzuhängen. Aber mit demokratischer Willensbildung haben sie in Wahrheit nicht das Geringste zu tun. In den Händen der innerparteilichen Seilschaften sind selbst demokratische Formen der Willensbildung nichts als Instrumente der Manipulation.

Überdeutlich wurde das bei der bombastisch gefeierten „Urabstimmung“ der SPD-Mitglieder über den Vertrag zur großen Koalition 2013. Da musste man sich wenigstens nicht mehr die Beteiligungszahlen schönrechnen. Die waren nämlich tatsächlich eindrucksvoll: Die Wahlbeteiligung betrug etwa 78 Prozent, 75,96 Prozent der gültigen Stimmen waren für den Koalitionsvertrag.

Aber worüber stimmten die Genossen ab?

Über ein programmatisches Riesenpaket von 134 eng bedruckten DIN-A4-Seiten. Vielen Themen wie der Pkw-Maut hätten sie einzeln niemals zugestimmt. Doch über die einzelnen Themen durften sie ja gar nicht entscheiden. Im Vorfeld gab es nur eine von der Parteispitze geführte PR-Diskussion, in der die Pro-Position verteidigt wurde. Eine demokratische Diskussion fand gar nicht statt, nur eine gelenkte Diskussion.

Wer gegen den Koalitionsvertrag oder einzelne seiner Positionen Bedenken äußern wollte, bekam kein Forum. Die Parteiführung allein führte die Diskussion. So ähnlich wurden „Diskussionen“ mit den Genossen auch zu Zeiten des großen Führers Josef Wissiaronowitsch Stalin geführt. Nur mussten diejenigen, die auf der „falschen“ Seite an der Diskussion teilnahmen, nicht gleich mit der Deportation nach Sibirien rechnen. Aber ansonsten hatte das Parteivolk nur die Wahl: Entweder seid ihr für das gesamte Paket oder dagegen. Etwas anderes gab es nicht.

Das war ein Vorgang wie der einer normalen Bundestagswahl und eben deshalb kein Element von direkter Demokratie: Man wählt pauschal eine Partei – egal, was die hinterher entscheidet und ob man damit einverstanden ist – oder man lässt es sein. Friss‘ oder stirb‘.

Wie viel anders läuft lebendige direkte Demokratie ab, wo die Wähler entscheiden, ob sie ein einzelnes konkretes Gesetz oder eine einzelne Verfassungsänderung akzeptieren oder eben auch nicht akzeptieren oder eine einzelne Gesetzesinitiative annehmen oder ablehnen? Nur eine konkrete, im Detail genau spezifizierte Entscheidung kann Gegenstand der direkten Demokratie sein. Nicht eine pauschale Ermächtigung.

Auch hier gewährte die SPD-Parteiführung ihren Mitgliedern großmütig das Recht, über die Entscheidung abzustimmen, die man in der Parteiführung längst getroffen hatte. Und da die Parteiführung sich dafür entschieden hatte, eine Koalition einzugehen, dank derer die SPD an der Bundesregierung beteiligt wurde, war auch nicht damit zu rechnen, dass die SPD-Genossen sich dagegen aussprechen würden. Und die Parteiführung bekam die Akklamation, die sie brauchte, um sich anschließend lauthals rühmen zu können, sie habe schon wieder einmal „mehr Demokratie wagen“ praktiziert. Tatsächlich hatte sie nur ein jämmerliches Schmierentheater inszeniert.

Es kam sogar noch schlimmer; denn im Vorfeld der Abstimmung klopfte die Parteiführung ihre Mitglieder mit dem Argument weich: Wenn ihr nicht der Führung zustimmt, dann ruiniert ihr die Partei und macht sie politikunfähig. Dann drohen Neuwahlen, und die SPD könnte noch weniger Stimmen bekommen als in der Bundestagswahl von 2013 und wäre auf Jahre hinaus von der Regierung ausgeschlossen.

Abstimmung als Alibiveranstaltung

Auch das sollte man sich sorgsam zu Gemüte führen: Da drohen angebliche Demokraten ihrem Wahlvolk mit demokratischen Wahlen. Die Abstimmung war eine reine Alibiveranstaltung. Die Parteiführung hatte im Vorfeld längst die Stimmung unter den Mitgliedern ausgelotet und wusste ziemlich genau, wie das Kasperletheater ausgehen würde. Lebendige, gelebte Demokratie geht nun einmal von unten nach oben und nicht in umgekehrter Richtung. Von oben nach unten geht nur eine billige Scharade, die dem blöden Volk in Form einer Demokratie-Pantomime vorgegaukelt wird.

In einer lebendigen direkten Demokratie wie der Schweiz stimmen die Bürger über eine einzelne Verfassungsänderung, ein einzelnes Gesetz, eine einzelne Maßnahme oder eine einzelne Initiative mit genauer und detaillierter Beschreibung ab und treffen eine konkrete Sachentscheidung.

Elemente einer direkten Demokratie sind in repräsentativen politischen Systemen entweder gar nicht oder nur als Farce, als Karikatur ihrer selbst durchsetzbar. Das ist traurige Realität. Es bleibt nur, weiter sehnsüchtig in die Schweiz zu schauen und zu hoffen, dass wenigstens Minimalelemente der direkten Demokratie sich in repräsentativen Gebilden durchsetzen lassen. Groß ist die Hoffnung allerdings nicht.

Wolfgang J. Koschnick (zuerst erschienen bei Telepolis)