U wie Urumtschi
Teil 7 der seemoz-Serie über das spannende Leben des Fritz Mühlenweg vom Bodensee; im Vorgriff auf die Museumseröffnung in einigen Monaten in Allensbach. Und die Frage, was Mühlenweg mit Karl May gemeinsam hat. Da geht es weniger um Lautierung denn um Geografie. Denn in die Wüste Gobi haben sich die Karl-May-Helden nie verirrt – Fritz Mühlenweg schon. Als Buchhalter der Sven-Hedin-Expedition erlebte er Abenteuer, die später in seinen Romanen ihren Niederschlag fanden.
Null Uhr fünf in Ürümqi? Ob die neuerdings geltende Lautierung der Hauptstadt von Xinjiang als Buchtitel auch so gut funktioniert hätte? Es hat vermutlich das mehrfache, tieftönende U gebraucht: ein kryptoerotischer Klang, mit dem die Romantitel von Karl May schon lang spielten (Schut, Old Shurehand…). Der tschi-Laut tönte zudem von Mays Nebenhelden Hadschi Halef Omar her wie ein Echo aus Exotik und Abenteuer. „Null Uhr fünf in Urumtschi“, vom Herder Verlag nach „Großer-Tiger und Kompass-Berg“ als Titel für Band 2 der zweibändigen Ausgabe gewählt, wurde ab 1950 die Formel, die Mühlenweg-Lesern als erste einfiel. Bei Herder schielten sie damals kräftig auf die Longseller des Radebeuler Geschichtenerfinders. Das Lektorat verlautbarte früh, dass Herder mit Fritz Mühlenweg nun „den besseren Karl May“ habe: Einen, der zudem erlebt hatte, wovon er schrieb.
Aber wofür steht „Urumtschi“, jenseits des Titelgongs?
Zu Zeiten Mühlenwegs hieß so in deutscher Umschrift die Hauptstadt der chinesischen Provinz Sinkiang. Als im Januar 1927 der kurz mal entlaufene Drogist für die Mutter in Konstanz und die Jugendliebe in Freiburg Versandetiketten in großer Anzahl vorab fertigte, an sich selbst adressiert, schrieb er die englische Fassung: Urumchi. Dort, am Endziel der ersten Etappe der Expedition, nach Durchquerung der Gobi von Paotou aus, hoffte Mühlenweg auf Care-Pakete und Briefe aus der Heimat. Der Expeditionsleiter Hedins erwartete forsch, dass sie nach vier, fünf Monaten in Urumtschi eintreffen würden. Dass sie dann vier Monate länger brauchten, hatte mehrere Ursachen: Managementfehler des Chefs (u. a. zu lange Forschungsausflüge von der Fluss-Oase Edsing-Gol aus, sodass die Kamelkarawane in die Eisstürme geriet und mehrere Tiere umkamen). Allerlei Unglücke auch – der große Führer hatte wie schon auf früheren Fahrten üble Gallensteine; die ohnehin durch Kälte gestressten Männer waren not amused, als sie den schweren Mann auf noch schwererer Trage durch die Wüste schleppen mussten…
Zuletzt sorgte ein in den Turbulenzen des chinesischen Bürgerkriegs gefährliches Missverständnis für einen Zwangsaufenthalt in der Stadt Hami: In der Gobi waren nämlich Gerüchte entstanden, es sei eine ausländische Invasionstruppe unterwegs nach Sinkiang, man hatte Dutzende Geschützrohre gezählt. Dass es sich um Wasserstoffflaschen handelte, zum Füllen der mitgeführten Wetterballons, mit denen Wind und Wetter gemessen werden sollten: wer hätte auch auf solche Gedanken kommen sollen? Gerüchte wanderten von Oasen aus auf Kamelrücken, auch schon per Dodge und Citroën, die unterwegs waren. Daraufhin wurde alle europäische Post für die Expedition über die Zensurstelle in Peking umgeleitet. Und der Machthaber von Urumtschi schickte seine bewaffneten Grenztruppen los.
Durch ein weiteres Missverständnis stolperte Mühlenweg in sein spannendstes Abenteuer: Er war von Hedin auf eine Sondermission zur Beschaffung von Proviant losgeschickt worden, hielt kontrollierende Grenzsoldaten für eine Räuberbande und ergriff bei Nacht die Flucht zu Fuß durch die Wüste. Wochenlang in der Grenzstadt Hami festgesetzt, konnten die Männer der Expedition erst im Januar 1928 aufbrechen. In Urumtschi kamen sie bei einem Tauwetter an, das die Straßen metertiefem mit Schlamm gefüllt hatte, in dem sogar Pferde ersaufen konnten. Dann aber: Friede Freude Eierkuchen, großes Bankett beim „Alten Herrscher“ in der Residenz.
Das wirkliche Urumtschi hielt für Mühlenweg prosaische Fakten bereit, die im späteren Roman nicht zu ahnen sind. Zuerst die Buchhalterarbeit für die diversen Marschgruppen der Expedition, die dort erst wieder zusammen kamen. Und dann wurde er überraschend nach Berlin zurück beordert. Denn der Machthaber von Sinkiang wollte der „Luft Hansa“ die Überflug- und Landerechte nicht einräumen, die für die Linie Berlin-Peking unabdingbar waren. Sven Hedin hatte zudem schon viel mehr Geld verbraucht, als ausgemacht war. Die deutsche Regierung stoppte erst einmal ein weiteres Sponsoring und holte ihren Buchhalter nach Hause. Eine Enttäuschung – denn Mühlenweg hatte noch auf weitere zwei Jahre in der Fremde gehofft.
Ein Jahr später fiel der Machthaber in Urumtschi einem (vermutlich vom stalinistischen Russland diskret unterstützten) Attentat zum Opfer. Mühlenweg verwandelte ihn – als er 20 Jahre später seine Chinaerfahrungen in seinem Roman umarbeitete – in die Figur eines weisen alten Herrschers; diese Gestalt hat mit seiner vagen Jugenderinnerung an den badischen Großherzog wohl mehr gemeinsam als mit dem historischen Yang Zengxin (einem Despoten, der die seinen Untertanen abgepressten Gelder millionenweise nach Hawaii verschob). Urumtschi“ blieb ein Nachklang emotionaler Erinnerung bei Mühlenweg-Lesern, ein Sehnsuchtswort, bei einigen durchwoben von Trauer. Als im April 1979 die FAZ ihre Redakteure über die Lieblingslektüren ihres Lebens schreiben ließ, titelte Bernhard Heimrich seinen Artikel über Mühlenwegs Roman mit: „Damals, null Uhr fünf in Urumtschi“. Heimrich schrieb über ein Buch, das fast 30 Jahre nach dem Tod des Autors nur noch in einer gekürzten Taschenbuchfassung unter dem Titel „Großer Tiger und Christian“ gedruckt wurde; der Autor selbst war in keinem Lexikon erwähnt. Heimrich formulierte damals eine rätselhafte Wirkung der Mühlenwegschen Prosa: „Ein wenig von dieser tückischen Traurigkeit, der man nicht auf die Spur kommt, lässt auch dieses Buch zurück.“
Autor: Ekkehard Faude
Kleine Klarstellung für Büchersammler: Die zweibändige Ausgabe war 1950 erfunden worden, damit Familien sich das Werk in preiswerten Einzelbänden anschaffen konnten ( Bd. 1: „Großer-Tiger und Kompaß-Berg“ , Bd. 2: „Null Uhr fünf in Urumtschi“). Die Titelbilder stammen von Elisabeth Mühlenweg. Es gab von Anfang auch eine einbändige Gesamtausgabe: „In geheimer Mission durch die Wüste Gobi“. Nach 1963 verbreitete Herder eine gekürzte Ausgabe unterm Titel „Großer Tiger und Christian“, die auch von dtv übernommen wurde. Seit 1993 gibt es „In geheimer Mission durch die Wüste Gobi“ wieder ungekürzt, und dtv hat – nach einem hübsch-harten Schriftwechsel über die Unsitte, einen Klassiker zu verstümmeln – gegen Ende des Jahrtausends die gekürzte Fassung aufgegeben.