Zwei Monde über dem Klumpen

„Der erste Weltkrieg hat tiefe Spuren in seiner Psyche hinterlassen“, schließt Ludwig Binswanger – Psychiater der Binswanger-Dynastie in der dritten Generation – aus dem Zustand Aby Warburgs. Der Hamburger Kunstwissenschaftler war von 1921 bis 1924 in der Kreuzlinger Privatklinik Bellevue mit der Diagnose „Schizophrenie“ in Behandlung. Unter Zwang, wie im Stück „Aby Warburg – Gespräche mit einem Nachtfalter“ immer wieder betont wird. Uraufgeführt wurde es am 21. März im Kult-X.

Gerd Zahner, der Autor, sagt über sich, er schreibe Stücke über Orte. Darum sei das Kult-X für die Aufführung ideal. Nachdem die Klinik Anfang der 1980er geschlossen worden war, wurde auf dem Gelände viel abgerissen und überbaut – „also war es unmöglich, es dort spielen zu lassen.“ Doch passt auch das Schiesser-Areal als Ort des Übergangs vom Fabrikgelände hin zu einem Kulturzentrum, und Übergänge haben eine zentrale Rolle in der Inszenierung von Oliver Vorwerk.

„Zwei Monde scheinen über dieser Stadt“, gibt Warburg, gespielt von Julian Härtner, zu bedenken. „Einer über Kreuzlingen und einer über Konstanz.“ Er echauffiert sich über Kreuzlingen, das keine Stadt sei, sondern eine Grenze, die beiden Städte seien zusammengewachsen wie ein Klumpen und doch voneinander getrennt. Im Traum sieht Warburg schon, was später geschieht: „Ich habe geträumt, der Name Binswanger ist bankrott, die Klinik wird abgerissen.“ Auch dass die schöne Parkanlage mit den herrschaftlichen Villen hässlichen Wohnblöcken und Parkgaragen weichen muss, sagen ihm seine Träume.

Keine Heilung für den Traum

Seine Albträume, hervorgerufen durch die Schreckensbilder des Ersten Weltkriegs und seine Vorhersehungen sind der Grund für seinen Klinikaufenthalt, denn 1918 wollte er sich und seine Familie erschießen, um sie zu retten. Georg Melich in der Rolle des Therapeuten Ludwig Binswanger, beschwört ihn zwar: „Der Krieg ist vorbei, es wird nie wieder so etwas Schlimmes geschehen.“ Die Angst und die Wahnvorstellungen über die Verfolgung von Juden, Hass und Tod, unter denen Aby Warburg leidet, sind aber präzise Bilder von dem, was wenige Jahre später tatsächlich noch passieren wird.

Das Bühnenbild von Elena Bulochnikova zeigt den Schwellenzustand auf, in dem das Stück spielt: Das Dazwischen zwischen Innen und Außen, der geschlossenen Anstalt und der Welt außerhalb, wird durch Plexiglasaufsteller markiert. Durch sie hindurchzuschauen ist schwierig, denn sie sind vollgeschrieben, -gekritzelt, -gemalt und nehmen so Warburgs Theorie des Denkens und Erinnerns in Bildern auf, und auch den Wunderblock Sigmund Freuds, Vater der Psychoanalyse, der Waburg im Bellevue besuchte: Erinnerungen werden zwar überschrieben, doch beim Wegwischen des Geschriebenen bleibt sein Abdruck. Es ist eingeschrieben und kann nie ganz ausgelöscht werden.

Kultur will das Chaos in eine Ordnung bringen

Warburg und Binswanger, zwei Koryphäen der Wissenschaft mit neuen Denkansätzen und Theorien, reiben sich aneinander. Immer wieder muss Krankenschwester Sonja (Anny De Silva) dem Patienten den Brieföffner abnehmen, damit er sich damit nicht die Pulsadern aufschlitzt. Sie steht zwischen den beiden Männern, sie sieht vor allem das Physische: Dass Warburg zu wenig isst, führt die Anwendungen wie Salz- und Wechselbäder und Stromtherapie bei ihm durch. „Sollte man sie nicht einfach raus schaffen?“ fragt sie den Arzt immer wieder, verzweifelt, dass bei Warburg nichts davon anschlägt. Und Binswanger verzweifelt ebenso an seinem Patienten: „Warum wollen Sie sich denn immer selber umbringen?“. Warburg sehnt sich die Kontrolle zurück, die ihm der Krieg mit seinem Chaos entriss. Dazu sammelte er Tausende von Zeitungsartikeln und Bildern über den Krieg, um die Erinnerungen zu ordnen, „als Kulturwissenschaftler, der sich das Dechiffrieren von Details zum Beruf gemacht hat.“

Die vielschichtige Inszenierung, die dem Publikum ein Bild der Persönlichkeiten malt, schafft es zudem, den anthroposophischen und ethnologischen Backround mit aufzunehmen, wenn sich Binswanger und Warburg wie in einem Übergangsritual in Trance tanzen, zu lauter, wummernder Goa-Musik. Wieder eine Betonung des Übergangs, des Zwischenzustands, in dem sich der Kranke oder einzig klar Sehende – das ist die zentrale Frage – befindet. Eingeschlossen im Kokon der Krankheit, der Zerrissenheit der Schizophrenie, führt er seine Gespräche mit einem Nachtfalter, dem düsteren Symbol der Metamorphose, wenn man den Tagfalter als seinen positiven Gegenspieler nimmt; passend zur drohenden Apokalypse des Zweiten Weltkriegs. Selbst das Publikum muss die Grenze zwischen Innen und Aussen übertreten, wodurch die Frage nochmals verstärkt wird: „Wer ist hier eigentlich krank? Und was ist der wahre Wahnsinn?“

Antonia Moretti (Foto: Theater Konstanz/Björn Jansen)

„Aby Warburg, Gespräche mit einem Nachtfalter“ ist eine Produktion des Theater Konstanz im Kult-X in Kreuzlingen, Hafenstrasse 8. Spieltermine: 25./31. März, 5./6./12./13.27./28. April jeweils um 20 Uhr. Karten theaterkasse@konstanz.de, Tel. +49 7531 900 150 oder an der Abendkasse.