Panzer im Weinberg – S 21 auf italienisch
Dass Jürgen Weber aktiver S21-Gegner ist, weiß man in der Region. Dass der Konstanzer Autor und Verleger sich aber auch international im Kampf gegen Großprojekte engagiert, wissen nur wenige. Hier und heute berichtet er über die geplante Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Turin und Lyon, die verkehrstechnisch nutzlos und gefährlich für die Umwelt ist. Nach riesigen Protesten im Susatal bewacht nun die Armee die zukünftige Baustelle.
Auf der Autostrada 32 zwischen Grenoble und Turin verengt sich die Fahrbahn vom Fréjus hinab ins Susatal bei Chiomonte auf eine Spur. Vierzig Stundenkilometer dürfen hier auf offener Straße noch gefahren werden. Der Grund sind nicht etwa Fahrbahnschäden, sondern eine Baustellenzufahrt. Mehr nicht. Dabei ist die Zufahrt verbarrikadiert und so gut gesichert, als ginge es darum, mit Sprengstoff beladene Lkws abzuwehren. Hinter der Absperrung mit massiven Betonsockeln kann man SoldatInnen der italienischen Gebirgsjäger Alpini und ihre gepanzerten Fahrzeuge erkennen. Diese Spezialeinheit der Armee – zwanzig Prozent der Alpini sind Frauen – wird auch in Afghanistan eingesetzt. Die verbarrikadierte Zufahrt gehört zu der momentan best gesicherten Baustelle Italiens. Dabei haben die Bauarbeiten dort noch nicht einmal begonnen: Hier soll ein Versorgungsstollen für den Bau des Basistunnels für eine Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke entstehen.
Carabinieri im Weinberg
Es ist gerade Weinernte im Susatal. Drei Generationen des Familienbetriebs von Giancarlo Martina arbeiten an diesem Septemberabend noch in den Reben des zweieinhalb Hektar großen Rebbergs bei Chiomonte. Der Weinbau hat Tradition, und doch ist dieses Jahr vieles anders und noch beschwerlicher als ohnehin. «Es ist das Emotionale, das dich schafft», sagt der Winzer. «Du fährst zu deinem Weinberg und wirst erst mal von zwei Carabinieri kontrolliert, die wissen wollen, was du mitbringst und ob du registriert bist.» Dass etwas in ihm rumort, sieht man Martina trotz seiner sachlichen Schilderung an: «Einmal haben sie vergessen, mich nach der Kontrolle zu melden, und als ich wieder raus wollte, machten zwei andere Ärger und wollten wissen, wie ich reingekommen bin.» Nach einer kurze Pausen fährt er fort: «Und das im eigenen Weinberg! Schon mein Opa baute hier Wein an.» Der Mann im verschwitzten Arbeitskittel schüttelt den Kopf.
In der Nähe von Martinas Weinberg soll die Nuova Linea Torino Lione, die neue Güterverkehrsstrecke entstehen, die Turin mit Lyon verbindet. Dazu wird, so die Planung, ein rund 64 Kilometer langer Basistunnel gegraben, der bis nach Frankreich reicht; dazu kommen weitere Tunnels sowie die Hochgeschwindigkeitsstrecke durch das Susatal bis Turin. Die Kosten des gigantischen Projekts sind umstritten, werden aber wohl deutlich über der bisher veranschlagten Grenze von zehn Milliarden Euro liegen.
Auf den bestehenden Gleisen durch das Susatal fährt bereits heute der französische Hochgeschwindigkeitszug TGV nach Paris, nur eben nicht mit 300 Kilometern pro Stunde. Die bestehende Strecke ist auf täglich vierzig Verbindungen ausgelegt, tatsächlich verkehren heute gerade einmal acht Züge pro Tag. Ursprünglich war das Projekt für den Personenverkehr deklariert; da der jedoch seit Mitte der neunziger Jahre auf der Strecke nach Lyon stark rückläufig ist, wurde das Großprojekt von der Europäischen Union kurzerhand umetikettiert. Es ist nun Teil des von der EU geförderten Güterverkehrskorridors von Lissabon nach Kiew. Das Verkehrsaufkommen auf dieser Güterstrecke ist allerdings gering, wie selbst die vorgesehene Betreiberfirma Lyon Turin Ferroviaire (LTF) einräumt, eine Tochterfirma der französischen Bahngesellschaft SNCF und der italienischen Trenitalia.
Die Hochgeschwindigkeitsbahn Treno ad Alta Velocità (TAV) sei hier im Tal ein «unsinniges Großprojekt» sagt Claudio Giorno, einer der Sprecher der GegnerInnen, die unter dem schlichten Slogan «No TAV» gegen dieses Vorhaben mobil machen. Italien stünde finanziell am Abgrund, so wie Griechenland. In einem Land, in dem fast alle Straßen Löcher aufweisen und in dem massiv beim öffentlichen Nahverkehr, bei Bildung und Kultur, bei sozialen Einrichtungen und Leistungen gespart wird, und auch das Geld für die Subventionierung erneuerbarer Energien fehlt, so die «No TAV»-AktivistInnen, dürfe ein solches Großprojekt nicht gegen den Willen der Menschen vor Ort realisiert werden. «Hände weg vom Susatal», fordert die Bewegung, die aus vielen regionalen Komitees und den wichtigsten italienischen Umweltverbänden wie WWF, Pro Natura, Italia Nostra und Legambiente besteht. Ihre weißroten «No TAV»-Fahnen hängen an vielen Straßen im Susatal, und gleich am Taleingang bei Avigliana ist seit Jahren in weißen, meterhohen Lettern am Berghang zu lesen: «TAV = Mafia».
«Baubeginn» wegen Subventionen
Die Argumente der BürgerInnen sind plausibel. Sie lehnen das Projekt ab, weil es das ohnehin schon von einer Autobahn und einem Hochleistungsstromtrasse durchzogene Tal weiter zerklüften würde. Über Jahre wären die TalbewohnerInnen dem Abtransport des asbest- und uranhaltigen Aushubs ausgesetzt, die Landschaft würde auf Dauer zerstört, Weinbau und Tourismus nähmen nachhaltig Schaden. Auch die geologischen Risiken seien nicht beherrschbar, argumentiert die Opposition. Und sie ist fachlich gut informiert. Denn die Resistenza, der Widerstand, habe schließlich, so Giorno, «im Tal eine lange Tradition».
Dennoch soll gebaut werden. Der italienische Infrastrukturminister Altero Matteoli betont immer wieder, welch hohe Priorität die Hochgeschwindigkeitsstrecke für den Staat hat. Sie soll umgesetzt werden, und zwar mit allen Mitteln: Damit EU-Gelder in Höhe von zunächst 620 Millionen Euro an die BetreiberInnen fließen können, musste ein Baubeginn vor dem Stichtag 30. Juni 2011 erfolgen. Dieser «Baubeginn» bestand jedoch nur in der Errichtung eines weitläufigen Bauzauns, der einzig der Sicherung der künftigen Baustelle dient. Dazu wurde im Morgengrauen des 26. Juni ein Hüttendorf der Protestbewegung, das bei der Winzergenossenschaft Maddalena entstanden war, unter Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern geräumt. Am Wochenende darauf, am 3. Juli, protestierten am Baugelände über 50?000 Menschen. Seitdem wird der Bauzaun rund um die Uhr von Einheiten der italienischen Polizia, der Carabinieri und der Alpini bewacht.
Kontrollmanie
Und so muss nun der Winzer Giancarlo Martina jedes mitarbeitende Familienmitglied und alle ErntehelferInnen bei der Präfektur melden. «Nur wer auf der Liste steht, kommt überhaupt rein», sagt Martina. «Wenn ich einen vergesse, schicken sie ihn wieder zurück.» Auch weitere WinzerInnen haben ihre Rebstöcke im Sperrgebiet. Es geht um ihre Existenz, denn auch ihre Genossenschaft, die den Wein direkt verkauft, liegt seit Ende Juni hinter dem Zaun und den Sperrlinien. Aus der im Tal neu entstandenen Initiative «Null Kilometer», welche die Produkte in unmittelbarer Nähe ihrer Erzeugung vermarkten will, wurde entsprechend «Null Euro» für die WeinproduzentInnen. Martina ist besorgt und zeigt doch noch seine Wut: «Weißt du, was ich nicht verstehen kann? Wie kann ein Bürgermeister, in dessen Ort seit tausend Jahren Wein angebaut wird, in dessen Ortswappen die Weinrebe enthalten ist, zulassen, dass sie das mit uns machen?»
Sein Ärger gilt Bürgermeister Renzo Pinard aus Chiomonte, der die Bauarbeiten in seinem Gemeindegebiet gutheißt. Dabei steht er ziemlich allein; nicht mal eine Handvoll der BürgermeisterInnen im Susatal ist für das Projekt. Die große Mehrheit lehnt es ab, wie die Großdemonstration am 3. Juli zeigte: Sie war von den BürgermeisterInnen aus 24 Talgemeinden angeführt worden, die sich ihre Amtsschärpen umgelegt hatten. Einer von ihnen ist Lionello Gioberto aus Vaie, einem 1400-Seelen-Ort zwischen Susa und Turin. Er lässt keinen Zweifel daran: «Ich bin gewählt worden, weil ich einen Auftrag habe: No TAV.» Jene KollegInnen, die sich nicht die Interessen von Wirtschaft oder Partei zu eigen gemacht haben, sehen das genauso. «Wir sind näher zusammengerückt», sagt Gioberto. «Wir sind jetzt nicht mehr nur aus diesem oder jenem Ort, sondern wir sind das Susatal.»
Über Schleichpfade
Das Argument, mit dem Tunnel kämen Arbeitsplätze ins Tal, kann Bürgermeister Gioberto kaum mehr hören: «Arbeitsplätze schaffst du auch mit einer Himbeerzucht.» Dann rechnet er vor, welche sinnvollen Projekte man in den Gemeinden für einen Bruchteil des Geldes für die TAV umsetzen könnte. Bei ihm im Dorf gebe es eine Mineralquelle. Mit einer Investition von sechs Millionen Euro könnte er dauerhaft fünfzehn Arbeitsplätze schaffen. «Will ich denn, dass mein Sohn einmal einen Tunnel graben muss?», fragt er. Gioberto gehört zur Generation, die schon mit ihren Eltern gegen die TAV demonstriert hat. Und diese Tradition setzt sich fort: «Mein Sohn ist heute 21 Jahre alt und praktisch seit seiner Geburt dabei.»
Im Januar jährte sich die erste Vollversammlung der «No TAV»-AktivistInnen tatsächlich zum 21. Mal, und seit dem Marsch auf Venaus im Januar 2005 hat die Bewegung immer wieder bewiesen, dass sie innerhalb weniger Tage Zehntausende im Tal mobilisieren kann. Damals erfuhr die Polizei nach einer nächtlichen Hüttendorfräumung in Venaus mit vielen verletzten Protestierenden, wie schwierig es ist, Teile des Tals abzuschirmen. Wie im PartisanInnenkampf der italienischen Resistenza im Zweiten Weltkrieg kamen die Protestierenden überall von den Bergen – über die Pfade, die nur die Einheimischen kennen. Zehntausende umgingen die Absperrungen und vertrieben schließlich die Polizei, die den Auftrag hatte, eine Probebohrung für den Stollen durchzusetzen.
Noch heute treffen sich täglich Menschen, um eine Mahnwache an der Stelle abzuhalten, wo die TAV erst einmal gestoppt wurde. Überall im Tal trifft man auf solche Protestposten, die inzwischen wie kleine Vereinsheime ausgebaut und mit sanitären Anlagen oder Küchen ausgestattet sind. In Borgone di Susa entstand 2005 die erste Widerstandshütte. Sie sei zwar nachts einmal angezündet worden, doch die DorfbewohnerInnen hätten sie in nur einem Tag wieder aufgebaut, erzählen einige RentnerInnen, die dort beisammen sitzen und die Nachrichtenlage diskutieren.
Claudio Giorno sitzt bei ihnen, und eine Frau bringt Kaffee für alle. Erst Ende August haben AktivistInnen der «No TAV»-Bewegung im Susatal ein Forum gegen «unnütze Großprojekte» mit AktivistInnen von Widerstandsbewegungen aus Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland veranstaltet. Giorno sprach auf dem Forum von einer regelrechten «Infrastrukturmanie, die den gesamten Kontinent mit Beton zudecken will» und gegen die sich nicht nur wegen der Finanzkrise immer mehr Widerstand formiere, in Stuttgart wie in Turin. Giorno empört sich darüber, dass in Zeiten, in denen der italienischen Bevölkerung große finanzielle Einschnitte bevorstehen, im Susatal täglich 90?000 Euro dafür ausgegeben werden, «das Nichts zu bewachen. Sie bewachen einen Zaun, dahinter ist keine Baustelle, sondern nichts.»
Panzer gegen Traktoren
Auf die Betreiberfirma der TAV kommen unterdessen wohl weitere Schwierigkeiten zu. Waren doch auf dem Forum auch erstmals GegnerInnen des weiteren Verlaufs der Hochgeschwindigkeitsbahn aus Friaul und Venedig aufgetreten, die den Bau durch ihre Region ebenfalls verhindern wollen.
«Du kannst den ‹No TAV›-Protest nicht von der Geschichte des Widerstands in Italien und insbesondere hier im Tal trennen», sagt Aktivist Giorno. Nur vor diesem Hintergrund ist auch eine Demonstration im Juli von 300 ReservistInnen der Alpini aus dem Susatal zu verstehen, die ihre diensthabenden KollegInnen hinterm Bauzaun heftig kritisierten: Von «Schande» und von «Scham» war gar die Rede. Die Feder am Dreieckshut, welche die ReservistInnen trugen, ist nicht nur das Erkennungszeichen der Alpini. Sie ist eben auch ein Symbol für die Tradition des Kampfs der aufständischen PartisanInnen, denen sich im Susatal und in den umliegenden Tälern viele angeschlossen und die Turin noch vor der Ankunft der Alliierten im April 1945 von der deutschen Besatzung befreit hatten.
Die Bevölkerung des Alpentals empfindet den Einsatz von Militär und insbesondere «ihrer» Alpini denn auch als besonders empörend. Sie wollen nicht wie Aufständische oder TerroristInnen behandelt werden. Doch als solche sehen sie viele italienische Politiker wie etwa Infrastrukturminister Altero Matteoli. Seit 2008 setzt die Regierung von Silvio Berlusconi immer wieder die Armee für polizeiliche Aufgaben im Inneren ein.
«Die hier stationierten Einheiten der Alpini sind aus Turin, sie sind klein, und jeder, der hier Dienst tut, war schon in Afghanistan oder wird dort hingehen», sagt Bürgermeister Gioberto. Auch der Winzer Martina ist Reservist der Alpini: «Doch nun stehe ich hier mit meinem Traktor und sie mit ihren Panzerwagen neben meinen Reben», sagt er. Solche Bilder sehe man eigentlich nur aus Afghanistan. In einem jedenfalls sind sich Bürgermeister Gioberto, Winzer Martina und Aktivist Giorno einig: Der Widerstand wird weitergehen – und wenn es noch mal zwanzig Jahre dauert.
Dazu passt auch die Reaktion einer Gruppe älterer Frauen, die über den Bauzaun hinweg mit einem Carabiniere sprechen, der ihr Enkel sein könnte. Zwei Monate würden sie bleiben, habe man ihnen gesagt, so der junge Mann, seinen blauen Helm an den Gürtel gebunden. Die Frauen beginnen zu lachen.
Autor: Jürgen Weber, aus: WOZ
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