Fußball und Wittgenstein im Konzert

Wenn Messi den Ball ins Tor tänzelt, ist das für viele der schönste Tango der Welt, und „Tooor“ ist jetzt unser aller Lieblingslied. Dass Musik aber selbst während der WM mehr sein kann als Tango und Torjubel, beweisen zwei ausgefallene Konzerte der Reihe „High Noon Musik 2000+“. Am 16. Juni gibt es Live-Impro­vi­sationen zur Übertragung des Länder­spiels Island-Argentinien, und am 24. Juni spielt das Jugendensemble für Neue Musik der Musik­schule in der Philharmonie. Also: Ohren und Herzen auf.

Fußball mit Musik ist eine verblüffend naheliegende Idee, also wird am 16.6. um 15.00 Uhr im Bürgersaal das WM-Gruppenspiel Island-Argentinien live auf einer Großleinwand gezeigt. Allerdings gibt es keinen O-Ton, denn die Lautsprecher werden abgestellt. Dafür wird das Spiel von sechs Musiker*innen, drei pro Mannschaft, improvisierend begleitet und kommentiert. Das ist nicht nur eine etwas andere Art, Fußball zu schauen, sondern wohl ein ziemlich neues Kapitel in der kargen Geschichte der Sportmusik, die über Debussys „Jeux“ oder Strawinskis „Jeu de cartes“ kaum hinaus gekommen ist.

Es dürfte ein spannender Nachmittag werden, wenn erregte Instrumentalist*innen zum Elfmeter improvisieren, gegen eine falsche rote Karte protestieren – und durch das Zerreißen einer Cello-Saite hämisch einen Bänderriss in der gegnerischen Mannschaft kommentieren. Oder, wie der Isländer an dieser Stelle zu singen pflegt: Hú!

Ein Komponist entschuldigt sich

Kennen Sie Cornelius Cardew (1936-1981)? Ziemlich sicher nicht, aber das können Sie ändern, denn demnächst gibt es in Konstanz Musik aus seinem „Treatise“ zu hören. Allerdings wird sich Cardew bei diesem Konzert vermutlich schamroten Hauptes im Grabe drehen, und das kommt nicht von ungefähr …

Der britische Komponist und improvisierende Musiker komponierte 1963-1967 mit dem „Treatise“ ein von Ludwig Wittgenstein philosophisch inspiriertes Werk in grafischer Notation. Es zählt bis heute zu seinen beliebtesten Stücken und lässt den Interpret*innen, typisch für jene Phase der Avantgarde, einiges an improvisatorischem Spielraum.

Von Wittgenstein zu Mao

Cardew war allerdings nicht lange zufrieden mit seinem Opus. Er studierte wenige Jahre später mit großem Gewinn die Werke des Großen Vorsitzenden Mao Zedong und begann eine gänzlich neue Phase seines Wirkens mit politischen Stücken und Aktionen. Von seinem „Treatise“ hielt er nun nicht mehr viel.

In seinem Buch „Stockhausen Serves Imperialism“ übte er 1974 heftige Selbstkritik und nannte das Stück „eine Krankheit, die nicht von selbst ausgebrochen ist“. Cardew kommt zu dem Ergebnis, dass „Avantgarde-Musik Ideen wiedergibt, die charakteristisch für die herrschende Klasse sind und so deren Fortleben sichern. Diese Ideen sind reaktionär und geben unser aktuelles Wissen über die Welt nicht adäquat wieder. Ihre Ausdrucksformen, wie das grafische Stück ‚Treatise‘, sind widersprüchlich und inkohärent, wie die Worte eines Lügners, der alle Hoffnung verloren hat, sein Publikum täuschen zu können. Die Wurzeln dieser Krankheit liegen in der Gesellschaft, nicht im Kopf des irregeleiteten Komponisten, aber das enthebt den Komponisten nicht seiner Verantwortung, die Welt nicht nur bunter zu machen, sondern sie zu verändern.“

Sprach’s, komponierte die „Thälmann Variations“, den „Bethanien Song“ sowie „Revolution is the Main Trend“ und verlagerte seine musikalischen Aktivitäten nach Möglichkeit vom Konzertsaal auf die Straße.

Ensemble der Musikschule

Zwei (von 190) Seiten aus dem „Treatise“ stehen nun auf dem Programm von „HighnoonNewKammer 1.0“, des ersten Jugendkonzerts des Vereins „HighNoon – Freunde Neuer Musik e.V.“ am 24.06. in der Philharmonie. Es ist zugleich der erste Auftritt des „Ensembles für Neue Musik“, das Peer Kaliss an der Konstanzer Musikschule gegründet hat. Die ältesten Mitwirkenden haben gerade Abitur gemacht, der jüngste ist noch in der Grundschule, und Kaliss war überrascht, wie vorurteilslos und aufgeschlossen seine Musiker*innen sich ans Werk machten. Schließlich gilt zeitgenössische Musik vielen Menschen, auch vielen Berufsmusiker*innen, als Pest und Cholera.

Die Truppe mit ihren rund 15 Mitwirkenden spielt in ganz unterschiedlichen Besetzungen. Peer Kaliss hatte es nicht ganz einfach, geeignete Stücke zu finden, denn die Musik sollte natürlich für die Mitwirkenden technisch spielbar sein und außerdem richtig gut klingen. „Ich suchte also so etwas wie die eierlegende Wollmilchsau. Die Recherche war der reine Wahnsinn.“ Man muss dabei bedenken, dass viel neue Musik für Profimusiker*innen spielbar ist, und auch die tun sich oft schwer. Sowohl an den Musikschulen als auch an den Musikhochschulen werden angehenden Instrumentalist*innen die Spieltaktiken zeitgenössischer Musik kaum vermittelt und dementsprechend gering ist die Bereitschaft, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Chapeau also für das neue Ensemble.

Außer Cardews „Treatise“ stehen in der Philharmonie auch John Cage’s „Five“ – fünf Spieler*innen, fünf Minuten – sowie Stücke von Charlotte Seither („Coq-á-l’âne“), Fredrik Zeller („Pling“) und die Uraufführung von Ralf Kleinehandings „Geysder“ auf dem Programm. In diesem Konzert werden einige „untypische“ Instrumente erklingen, zum Beispiel ein Fön, einige Bürsten und ein Teppichklopfer.

Außerdem werden an diesem Mittag in der Philharmonie Eigenkompositionen der Komponistenwerkstatt des Studios für elektronische Musik der Musikschule Konstanz unter der Leitung von Pablo Beltrán aufgeführt. Den Mitwirkenden kann man nur wünschen, dass an diesem Mittag nicht Hörnle-, sondern echtes Konzertwetter herrscht.

Harald Borges

Foto: Ralf Kleinehanding, abgebildet sind Mitglieder des Ensembles für Neue Musik der Musikschule

Mehr Informationen:
http://www.highnoonmusik.de/
http://www.ensemble21.com/cardew_stockhausen.pdf

Konzert 1: 16. Juni 2018, 15.00 Uhr
Bürgersaal, St.-Stephans-Platz 17, Konstanz
Stummer Fußball live musiziert
„Stell dir vor, es ist WM und alles ist Musik“
Annette Harzer (Tasteninstrumente), Kristín Kristjánsdóttir (Tasteninstrumente), Berenike Derbidge (Violoncello), Jürgen Voosen (E-Gitarre), Peer Kaliss (Schlagzeug), Ralf Kleinehanding (Vibraphon)
Eintritt frei.

Konzert 2: 24. Juni 2018, 12.00 Uhr
Studio der Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz
Fischmarkt 2, Konstanz
„HighnoonNewKammer 1.0“
David Franke, Franziska Obergfell, Lena Rapp, Leonard Lang, Felix Hauswald, Sarah Bahtelt, Mateousz Gluszko, Michal Gluszko, Lina Moßbrucker, Mara Zenker, David Schaefer, Bettina Haugg-Scheu, Jakub Warzecha, Leitung: Peer Kaliss/Pablo Beltrán
Eintritt 10,-/6,- €