Drum lass los, was du liebst
Inmitten von Schnee und Eis steht ein junger Mann ganz allein und summt vor sich hin. Mutterseelenallein. Woher kommt dieser Begriff und was mag er bedeuten? Das erzählt er in der Geschichte „Das Kind der Seehundfrau“, die die seine ist und derzeit unter der Regie von Ingo Putz am Theater Konstanz gespielt wird.
Die Mutter hat die Familie verlassen, der Vater ist schuld. Hat er doch vor sieben Jahren mit einer List ihr Herz erobert, als er ihr Seehundfell stahl und sie zwang, seine Frau zu werden. Sie ging zu ihm, jedoch mit dem Versprechen, dass sie ihr Fell nach sieben Jahren zurück bekäme. Sie waren glücklich, obwohl sie eine Seehundfrau war, ein Wesen, das in den Tiefen des Meeres lebt, und er ein Mensch. Und sie bekamen einen Sohn – Oruk, wie der Vater ihn nannte, Inuk – so rief ihn die Mutter.
Sie waren glücklich, doch es ließ sich nicht verbergen, dass etwas nicht stimmte. Die Mutter wurde krank. Ihre Haut wurde dünn und ihre Augen schlecht. Sie musste zurück ins Wasser, anderenfalls würde sie sterben. Ihr Mann wurde wütend, das Kind traurig. Doch alles Bemühen, alles Schreien und Weinen, es half nichts – die Seehundfrau konnte nicht länger in ihrer Familie leben, sie musste ihr Fell zurück bekommen und wieder ins Meer hinab tauchen. Mann und Kind blieben zurück, in Vorwürfen und Streit, allein.
Allein ist die Mutterseele
Mutterseelenallein, verlassen von der eigenen Mutter. Eine Tatsache, die sich selten zeigt und die gesellschaftlich nicht tragbar scheint. Sind es doch meist die Männer, die gehen. Verlässt ein Elternteil die Familie, so bleibt das Kind zurück, sucht nach dem Fehler, der das Familienglück ins Stocken gebracht hat, bezieht die Streitigkeiten der Eltern auf sich, fühlt sich einsam und verlassen. Der Rhythmus des Lebens ist außer Takt, ist umgekippt – normal sind es doch die Kinder, die irgendwann ihre Eltern verlassen und nicht anders herum.
Mutterseelenallein kann aber auch anders herum gelesen werden. Allein ist die Mutterseele – was dann? Was, wenn eine Frau spürt, dass die von ihr geschaffene Familie nicht der Ort ist, an dem sie leben kann? Wenn sie alleine ist unter vielen, sich einsam fühlt inmitten der Geborgenheit? Das ist es, wovon das Märchen erzählt: Nimm deine Seele, Frau, und geh, ansonsten wirst du zugrunde gehen. Es ist eine Rechtfertigung von Trennungen, von der Auflösung des Systems Familie, vom Alleine-Zurücklassen der Kinder. Und es zeigt sehr deutlich, dass eine solche Entscheidung nicht bedeutet, dass man bereut, was man getan und wie man gelebt hat. „Ich habe deinen Vater geliebt und ich war glücklich“, sagt die Seehundfrau. Dann dreht sie sich um und schwimmt davon.
Grönländerinnen, Engel und Helden
Sie wird gespielt von Kimmernaq Kjeldsen, einer grönländischen Sängerin und Schauspielerin. Sie interpretiert ihre Rolle zum Teil in ihrer Heimatsprache, zum Teil auf Deutsch, einer Sprache, die sie eigens für das Stück gelernt hat. Und sie hat noch ein drittes Ausdrucksmittel: die Musik. Wenn Kjeldsen anfängt, ihre eigenen Lieder auf Grönländisch zu singen, stellen sich beim Zuhörer die kleinen Haare im Nacken und auf den Armen auf vor lauter Beseeltheit. So wunderbar warm, mit so viel Herz und Tiefe – noch einmal wird die Geschichte auf einer ganz anderen Ebene erzählt und man versteht die Botschaft nicht nur, man fühlt sie.
Begleitet wird Kjeldsen von drei Musikern im Engelsgewand (Menuhin Reinen, Lisa Rüppel, Rudolf Hartmann), die in der Funktion eines Chors das Stück hinterfragen und kritisch kommentieren. Glücklicherweise sprechen auch alle drei fließend Grönländisch und können so einige unverständliche Passagen problemlos übersetzen. Ansonsten harmonieren sie nicht nur perfekt zum Gesang der grönländischen Sängerin, sondern geben auch das Rauschen des Meeres, den Gesang der Seehunde und andere landschaftliche Interpretationen wider. Diese finden sich auch im Bühnenbild (Marie Labsch). Auf eine eindrückliche Weise zeigt sie darin wie nebenbei, was Papier so alles kann.
Und dann ist da noch Gregor Müller. Er beendet seine persönliche Heldenreise im „Kind der Seehundfrau“. Das Schema ist bekannt: Der Protagonist bricht aus der Heimat auf, mit einer Aufgabe, überwindet Hindernisse und kehrt mit einer besonderen Fähigkeit nach Hause zurück. Hans im Glück, Odysseus, Herr der Ringe – alles folgt dem Heldenschema. Müller begann seine Schauspielkarriere auf der Werkstattbühne des Theaters Konstanz. Nach einem Studium in Wiesbaden sowie Engagements in Lüneburg und Mainz, kehrt er nun wieder in seine Heimat zurück. Seine erlernte Fähigkeit ist ganz klar: das Zurschaustellen. Er springt zwischen den Rollen von Vater und Sohn, er zeigt das Kind und den Mann, das Geliebte und den Geliebten, etwas Großes im Kleinen und Kleines im Großen. Er zieht klare Linien. Seine Gesichtszüge sind weich, sobald er Oruk darstellt, und zerfurcht wie die Landschaft Grönlands, wenn er in des Vaters Gummistiefel schlüpft. Gregor Müller ist in diesem Stück zweifelsohne zum Helden geworden.
„Das Kind der Seehundfrau“ ist ein Stück für Kinder ab sieben Jahren und eignet sich bestens, um ihnen ein Bild der Welt zu vermitteln, wie sie sein kann: voller Wärme inmitten von Eisschollen. Am Ende wird zwar nicht alles gut, und doch geht es versöhnlich aus, mit viel Hoffnung und Zuversicht. Ein Lieblingsstück – wild, weise und seelenvoll!
Veronika Fischer (Foto: Theater Konstanz/Björn Jansen)
Nächste Veranstaltung: Donnerstag, 14.06, 10:00, Werkstatt
„Das Kind der Seehundfrau“ ist poetisch, an- und berührend.
Ein Stück, das Gefühle hochsprudeln lässt, wie beim Auftauchen und wo Glück, Schmerz und Traurigkeit … ganz nah sind.