Türkei-Wahlen: „Es kommt auf jede Stimme an“
Am 24. Juni wird in der Türkei gewählt. Es geht um das Amt des Staatspräsidenten, zudem entscheiden die Wähler*innen über die Zusammensetzung des Parlaments. Im Wahlkampf hat der autoritär regierende Amtsinhaber Erdogan die Zügel der Repression noch einmal angezogen und drangsaliert die Opposition. Der lange Arm des Autokraten reicht dabei bis nach Deutschland. Die Lage in der Türkei vor den Wahlen ist am 21.6. auch Thema einer Veranstaltung im Treffpunkt Petershausen in Konstanz mit der linken Bundestagsabgeordneten Gökay Akbulut.
Nicht nur 59 Millionen Wahlberechtigte in der Türkei können am 24. Juni ihre Stimmen abgeben, auch rund drei Millionen im Ausland lebende Menschen mit türkischem Pass sind an die Urnen gerufen, fast die Hälfte davon (1,44 Mio.) lebt in Deutschland. Wer indes dieser Tage Kolleg*innen oder Bekannte mit familiären Wurzeln in der Türkei auf das Thema anspricht, erntet oft reserviertes Schweigen.
Für Gökay Akbulut, die 1990 mit ihren Eltern nach Deutschland kam, ist das keine Überraschung. Auch hierzulande habe sich unter den türkeistämmigen Bürgerinnen und Bürgern in den letzten Jahren eine Stimmung der Einschüchterung breitgemacht, sagt die Linke-Abgeordnete mit kurdischen Wurzeln, die sich in ihrer Heimatstadt Mannheim in kurdischen Vereinen engagiert. „Viele trauen sich nicht mehr, ihre politische Haltung offen kundzutun, weil sie fürchten, dass sie dadurch Probleme für ihre Angehörigen in der Türkei verursachen könnten.“ Zudem habe die türkische Regierung, so Akbulut weiter, „ein breites Netzwerk an Spitzeln und Agenten inmitten der Bundesrepublik installiert“, die ungehindert Informationen über Oppositionelle sammelten und an die Regierungsbehörden in Ankara weiterleiten. „Zu glauben, dass diese Praxis sich nicht auf das Wahlverhalten der Stimmberechtigten in Deutschland auswirkt, wäre naiv.“
Quo vadis Türkei?
Welch große Bedeutung den Auslandsstimmen zukommt, hat Amtsinhaber Erdogan Anfang Juni deutlich gemacht, als er die Wahlberechtigten im Ausland aufrief: „Bringt auch in Europa mit Gottes Hilfe die Urnen zum Platzen“. Für Erdogan geht es bei diesen Wahlen um viel. Gewinnt der im Ausnahmezustand autoritär regierende Staatspräsident erneut, kann er die im April letzten Jahres beschlossene Verfassungsreform, die das Land in eine Präsidialdiktatur verwandeln würde, umgehend in Kraft setzen und damit seine Alleinherrschaft endgültig zementieren.
Unmut wächst
Die Vorverlegung des eigentlich erst für November 2019 vorgesehenen Wahltermins um mehr als ein Jahr kann als Indiz für die wachsende Nervosität des Autokraten gewertet werden. Noch vor wenigen Monaten hatte sich Erdogan für unantastbar gehalten und vorgezogene Wahlen kategorisch abgelehnt. Der nach dem vermeintlichen Pusch 2016 von ihm entfesselte nationalistische Hype, dem er seinen Höhenflug verdankte, verfängt indes zunehmend weniger. Die desaströsen Folgen der Politik des Regierungsbündnisses aus der reaktionär-islamistischen AKP und der ultranationalistischen MHP sind inzwischen unübersehbar. Die türkische Wirtschaft lahmt, die Erwerbslosigkeit wächst stetig, die Inflationsrate steigt dramatisch und der staatliche Schuldenberg wird immer größer.
So hat die türkische Lira in rasanter Talfahrt rund 20 Prozent an Wert gegenüber Dollar und Euro verloren. Gleichzeitig steigen die Preise drastisch, um bis zu 18 Prozent sind es für Lebensmittel, was selbst für Menschen mit durchschnittlichen Einkommen empfindliche Einbußen bedeutet. Wie ernst das Regime selbst die Lage nimmt, zeigt nicht zuletzt Erdogans Aufruf an die Bevölkerung, private Dollar- und Eurobestände in Lira umzutauschen, um die Währung zu stützen.
Der soziale Preis, den die Bevölkerung für Erdogans aberwitzig teure Großmachtpolitik und seine Kriegsabenteuer zahlt, ist inzwischen so hoch, dass sich wachsender Unmut bemerkbar macht. Mit den vorgezogenen Wahlen will der Amtsinhaber den Sack nun zu machen, solange er sich noch fest im Sattel glaubt.
Freie Wahlen? Fehlanzeige
Im Wahlkampf, der unter den Bedingungen des Ausnahmezustands stattfindet, hat der autokratische Machthaber die Repressionsschraube noch einmal kräftig angezogen. Zu den Tausenden, die wegen Regierungskritik schon in den Gefängnissen sitzen, sind in den vergangenen Wochen scharenweise weitere Regierungskritiker*innen gekommen. Mit aller Härte gehen Polizei und Justiz gegen Angehörige oppositioneller Kandidaten und Parteien vor. Vor allem Unterstützer*innen der linken „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP) und kurdische Aktivist*innen hat die Staatsmacht im Visier. Fast täglich werden HDP-Wahlkomitees und -Wahlhelfer verhaftet, in vielen kurdischen Städten hat die staatliche Zwangsverwaltung öffentliche Wahlwerbung für die linke Partei untersagt, vor allem in der Westtürkei sind Überfälle auf Infostände und Veranstaltungen der HDP an der Tagesordnung.
Gleichzeitig sorgen die rigide staatliche Zensur, Medienverbote und die juristische Verfolgung von Journalist*innen für eine stromlinienförmige Pro-Erdogan-Propaganda. Schon im Vorfeld hatte die AKP-MHP-Regierungskoalition zudem aus Angst vor einer möglichen Abwahl das Wahlrecht zu ihren Gunsten geändert. So können etwa Stimmen ohne Bestätigungsstempel als gültig gewertet werden, die in der Vergangenheit vor Ort erfolgte Auszählung soll unter zentraler Aufsicht stattfinden – die Türen für Manipulationen stehen damit weit offen.
Schon im Mai hatte das Wüten der Erdogan-Regierung die UN auf den Plan gerufen. Der Menschenrechtskommissar Zeid Ra’ad al-Hussein forderte die Aufhebung des Ausnahmezustands und verurteilte die Einschränkung von Menschenrechten, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. „Es sei schwer vorstellbar, wie glaubwürdige Wahlen abgehalten werden könnten, wenn regierungskritische Meinungsäußerungen ‚schwer bestraft‘ würden“, wurde Hussein bei spiegel-online zitiert. „Die Regierung müsse den Bürgern ermöglichen, ‚vollständig und auf Augenhöhe‘ an den Staatsangelegenheiten teilnehmen und sowohl wählen, als auch gewählt werden zu können.“
Hoffnungsträgerin HDP
Aktuellen Umfragen zufolge könnte Erdogan im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit verfehlen, seinem Regierungsbündnis aus AKP und MHP droht gar der Verlust der parlamentarischen Mehrheit. In dieser Situation kommt es deshalb nun sowohl bei der Präsdidenten- als auch der Parlamentswahl besonders auf die Stimmen für die HDP und ihren Kandidaten Selahattin Demirtas an, der Wahlkampf vom Gefängnis aus machen muss. Nur wenn die HDP und ihr Kandidat trotz aller Repressionen erneut die undemokratische 10-Prozenthürde überspringen, könnte – aufgrund des Wahlrechts – der Durchmarsch Erdogans und seiner politischen Fußtruppen gestoppt werden. Auch programmatisch ist die linke Partei die einzige Kraft, die nicht nur den Bruch mit dem islamistisch-faschistischen Kurs von AKP und MHP will, sondern auch den nationalistischen Konzepten etwa der kemalistischen CHP eine Absage erteilt.
So hat sich die HDP die sofortige Beendigung des Ausnahmezustands und die Wiederherstellung der demokratischen Gewaltenteilung auf die Fahnen geschrieben, sie will die Zensur aufheben und die politischen Gefangenen befreien. Zudem tritt die Partei für entschiedene Sozial- und Bildungsreformen ein, will die Diskriminierung der kurdischen Bevölkerung und anderer Minderheiten unterbinden und fordert ein sofortiges Ende der gegen die kurdischen Autonomiegebiete gerichteten Angriffskriege Erdogans in Syrien und dem Irak.
Für Gökay Akbulut, die als Abgeordnete der Linken für den Erfolg der Schwesterpartei HDP wirbt, kommt es deshalb auf jede Stimme an. Sie ruft die Wahlberechtigten in der Bundesrepublik zur Stimmabgabe für die HDP auf. Mit ihrem Sprung über die 10-Prozent-Hürde würde es eng werden für den Autokraten Erdogan und sein Regierungsbündnis. Die AKP, ist Akbulut überzeugt, werde deshalb wohl nichts unversucht lassen, um die HDP unter die Wahlhürde zu drücken. Selbst eine Manipulation der Ergebnisse hält sie nicht für ausgeschlossen. „Auch aus diesem Grund wird es bei diesen Wahlen auf jede abgegebene Stimme ankommen, auch in Deutschland.“
J. Geiger
Fotos: HDP-Kundgebung am 10.6. in Istanbul – anfdeutsch.com; Gökay Akbulut – T. Mardo Mannheim.
Die Türkei vor den Wahlen: Wer stoppt Erdogans Marsch in die Diktatur?
Veranstaltung mit Gökay Akbulut, MdB DIE LINKE
Veranstalter: Bodensee-Solidaritätsbündnis Afrin/Rojava, seemoz e.V.
Termin, Ort, Zeit: 21. Juni 2018, Konstanz, Treffpunkt Petershausen, 18:30 Uhr