„Die Kumpanei mit Erdogan muss ein Ende haben“

Gleichgültig, wie die Wahlen am Sonntag in der Türkei ausgehen – Gökay Akbulut ist überzeugt, dass die Türkei an einem historischen Wendepunkt steht: Wer stoppt Erdogans Marsch in die Diktatur? war dann auch die Diskussionsveranstaltung überschrieben, in der die linke Bundestags­abgeordnete aus Mannheim drei Tage vor der Wahl in Konstanz über den Wahlkampf berichtete. Sie ist sicher: „Natürlich wird es Manipulationen geben“.

Sie konnte diesen Verdacht gut belegen: Der Linken-Abgeordnete Andrej Hunko sollte die Abstimmung als OSZE-Beobachter begleiten und wurde gestern von türkischen Behörden an der Einreise nach Istanbul gehindert. Auch sie selber sei als Wahlbeobachterin vorgesehen gewesen, habe die Reise aber als Tochter alevitischer Kurden und Kritikerin des türkischen Regimes wohlweislich vermieden: „Die Repression gerade gegen Kurden ist unerträglich.“ Wahlfälschungen gab es bei den letzten Wahlen, Wahlbeeinträchtigungen gibt es auch heute schon.

Wahlbeinträchtigungen

Über 20 kurdische Bürgermeister*innen wurden inhaftiert, seit Erdogan den Krieg gegen das kurdische Rojava in Nordsyrien begonnen und Afrin (kurdisch: Efrin) eingenommen habe, hunderte Abgeordnete und Funktionäre der kurdenfreundlichen HDP seien inhaftiert, der HDP-Chef Demirtas mache Wahlkampf aus der Gefängniszelle. Dennoch, so Akbulut, habe die HDP gute Chancen, die Zehn-Prozent-Hürde (!) zu überspringen, ins Parlament einzuziehen und sogar in einem zweiten Wahlgang zum Zünglein an der Waage zu werden.

Denn der Despot Erdogan kann sich eines Wahlsieges nicht mehr sicher sein, meint die Mannheimer Abgeordnete. Nicht so sehr der Kurden-Krieg, mehr noch der wirtschaftliche Niedergang mache Erdogan zu schaffen. Die Inflation mit dramatischen Ausmaßen, die Währung im Sinkflug, Einbrüche im Tourismusgeschäft um fast 50 Prozent, ein empfindlicher Rückzug ausländischer Investoren – dieser Abwärtstrend hat viele frühere Erdogan-Wähler zum Umdenken gebracht, wie ein kurdischer Zuhörer nach Gesprächen mit seiner Verwandtschaft in der Türkei berichtete.

So könnte es durchaus sein, dass Erdogans AKP im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit verfehlt. Wahlprognosen sprechen derzeit nur von einem kleinen Vorsprung (45 Prozen) der Regierungs-Koalition vor dem Oppositions-Bündnis (40 Prozent). Und in dieser Rechnung ist die HDP, die nicht zum Bündnis der oppositionellen Sozialdemokraten gerechnet wird, noch nicht einmal mitgezählt. Ihr Abschneiden könnte zumindest in einem zweiten Wahlgang, wenn es zum Schulterschluss aller Oppositionsparteien kommen könnte, wahlentscheidend werden.

Deutsche Wahlhilfe

Doch alle diese Rechenspiele dürften nicht darüber hinweg täuschen, so Akbulut, dass die Berliner Bundesregierung das Erdogan-Regime weiterhin massiv unterstützt. Immer noch ständen Bundeswehrverbände in der Türkei, immer noch würden Milliardenbeträge nach Ankara für den Flüchtlingsdeal überwiesen, immer noch werden Rüstungsexporte (2017 allein für 250 Millionen Euro) in die Türkei bewilligt, immer noch werden PKK-Aktivitäten hierzulande kriminalisiert (erst gestern wurden zwei Aktivisten in Stuttgart verhaftet). „Die Kumpanei mit Erdogan muss ein Ende haben“, forderte Gökay Akbulut.

hpk (das hpk-Teaserfoto zeigt Gökay Akbulut [Mitte] mit den Moderatoren Güsüm Meral und Florian Griebling vom Bodensee-Solidaritätsbündnis mit Afrin/Rojava)