Aus Arzt wird Art – Visite mal anders

Bald schon beginnen die Abrissarbeiten, und das Vincentius-Krankenhaus an der Unteren Laube in Konstanz wird einem Wohnblock weichen. Das alte Klinikum schließt seine Pforten aber nicht sang- und klanglos – im Gegenteil. Am kommenden Wochenende hält die Kunst Einzug in die Zimmer mit Linoleumböden, und kein OP-Tischchen ist mehr sicher. Der Besucher wird selbst zum Chefarzt, wenn es heißt: Visite!

Bereits im März diesen Jahres hat die Medizin das Vincentius-Krankenhaus in Konstanz verlassen. Alle Abteilungen zogen auf das Klinikgelände und das zentral gelegene Gebäude an der Unteren Laube, vor dessen Tür man schon fast auf den Rhein sehen kann und wo viele Konstanzer das Licht der Welt erblickt haben, ist nur mehr eine leere Hülle. Demnächst winkt die Abrissbirne und der Koloss aus Beton und Stahl weicht einem modernen Wohnblock. Au revoir, hôpital!

So ein Gebäude kann nicht einfach platt gemacht werden, als wäre nichts gewesen, findet auch Stadträtin Christiane Kreitmeier, die das Krankenhaus ein letztes Mal besucht. Sie steht voll hinter dem parteiübergreifenden Entschluss, dass hier noch etwas passieren muss und zwar: Kunst!

In Singen hat das Projekt Arte Romeias im vergangenen Jahr gezeigt, wie das geht. In einem abrissreifen Wohnblock wurden die einzelnen Räume Künstlerinnen und Künstlern zugängig gemacht, die dort arbeiten konnten und ein Wochenende lang präsentieren, was dabei zustande kam. Am Ende wurde mit einem Baggerballett ein riesiges Graffiti freigelegt, dann kam der reale Abriss.

Hinter dieser Abschlussaktion standen Bert Binnig und Friedrich Haupt. Sie waren begeistert von dem Projekt und fragten sich, warum es das nicht auch in Konstanz, der Stadt, in der sie leben, gäbe. Das Abrisskrankenhaus kam also wie gerufen und auch eine finanzielle Förderung war schließlich gefunden: der Kulturfonds der Stadt Konstanz, das Vincentius-Krankenhaus sowie die Landesbank Baden-Württemberg, die künftige Besitzerin des Areals, haben die nötigen Gelder bereitgestellt.

Und nun, ein halbes Jahr später, steht es bevor, das Wochenende voller Klang und Farbe. Über einhundert Künstlerinnen und Künstler haben in den letzten Wochen hier gewerkelt. Mehr als zehn Schulklassen und Kindergartengruppen sind durch die Räume gezogen und haben ihre Fußabdrücke hinterlassen. „Vom Gemeinderat, der hier geboren wurde, bis zur LKM-Studentin, die seit zwei Jahren in Konstanz lebt, finden sich Menschen hier zusammen. Wir wollen die ganze Stadt mitnehmen“, so Friedrich Haupt, der zusammen mit Bert Binnig sowie Tim und Magdalena Schaefer als künstlerische Leitung das Projekt „Visite“ verantwortet.

Hinter ihnen liegt ein Organisationsmarathon, der ungeahnte Ausmaße angenommen hat. „Zuletzt musste Baustrom verlegt und der Brandschutz angepasst werden, weil der nicht auf dem Standard von 2018 war“, so Haupt, der eigentlich an der Uni in der Verwaltung arbeitet und – wie die anderen auch – neben dem Job noch Familie hat. Das Projekt Visite lief nebenher – man möchte das kaum glauben, wenn man die Dimension erfasst. Ein großes Kompliment an dieser Stelle an das Visite-Team. Und wenn sich demnächst noch jemand beschwert, dass in dieser kleinen Stadt am See nichts geht, dann kann er oder sie ja einen von ihnen zum Abendessen einladen und sich eines Besseren belehren lassen.

OP-Saal, Röntgenraum und Krankenzimmer in neuem Gewand

Jetzt aber mal zum Inhalt: Von außen sieht man schon Farbe an der Fassade herabtropfen, einen wundervollen Blauwal an der Wand entlang schwimmen und fünf Meter große Nonnenportraits an den Wänden. Diese waren hier lange Jahre als Pflegerinnen tätig und leben heute im Kloster Hegne. In den Räumen spricht die Krankenhausatmosphäre der 1970er Jahre noch Bände. Doch sie wird aufgebrochen, demontiert, übermalt, zerschlagen und überwuchert. Im ersten Gang links finden sich drei Räume, die das Thema „Natur“ in unterschiedlicher Form aufgreifen. Die Studentin Julia Germroth schafft zusammen mit der Hochschulgruppe Bildende Kunst in ihrer Installation „Tschernobyl“ eine düstere Katastrophenlandschaft, die von der Natur zurückerobert und damit besiegt wird. Germroth selbst war schon drei Mal im Sperrgebiet und arbeitet ihre Erlebnisse und Gefühlswelten skulptural und musikalisch mit symphonischem Metall auf.

Nebenan geht es weniger düster zu: Dokumentarfilmerin Teresa Renn, die man von den Theatertrailern kennt, errichtet in einem ehemals sterilen Zimmer einen Permakulturgarten. Eine Dschungeltapete vom Flohmarkt dekoriert die Wände, hinzu kommen echte Pflanzen aus dem Garten von Peter Lenk (Imperia!) sowie allerhand Dinge, die Renn geschenkt bekommen hat. Auf der Facebookgruppe „Such’s Konstanz“ hat sie alles erhalten, was sie für die drei Tage braucht. „Eine ganz neue Erfahrung, dieses Schnorren, aber es hat super funktioniert“, so die Filmerin. Sie zeigt eine Aufnahme von einer wachsenden Pflanze und spielt somit mit dem Konzept von Wachstum und Verfall.

Hypnose, Darkroom und Wohnzimmergespräche

Ein Zimmer weiter ziert ein großes Wandbild mit Palmen und Meer die Wand des ehemaligen Krankenzimmers. Hier bietet Hypnosecoach Sabine Johannisson Erholung und ein Urlaubsgefühl an. Sind Sie auch reif für die Insel? Nichts wie hin! Oder doch lieber in den Darkroom? Da kann man sich ja auch vom Alltag ablenken. Die LKM-Studis geben hier Gelegenheit für die Neon-Visite. Ergebnisse kann/darf/muss man dann auf Instagram posten – Konstanz goes Berghain?

Wer lieber im Gespräch mit einem unbekannten Gegenüber in Kontakt kommt, ist vielleicht besser bei Jennifer Schecker und Dominik Böhringer aufgehoben. Die beiden Theatermenschen haben ein urgemütliches Wohnzimmer eingerichtet, wo man sich setzen und unterhalten kann. Es geht ums Altern. Zwischen Gummibäumchen, die aus Waschbecken wachsen, Perserteppichen und einem kunstvollen Umgang mit der blau beschichteten Ursprungstapete gibt es also Speeddating, nur ohne Speed und Dating.

Was ist denn nun eigentlich Krankenhaus und was ist Kunst, fragt man sich an so mancher Stelle. Zum Beispiel im Röntgenraum von Andreas Wacker. Seine Werke sind wie gemacht für die teils frostige Atmosphäre, die auch ein wenig Horrorfilmfeeling mitbringt. Wackers Ölgemälde wirken wie ein Raum im Raum und fügen sich perfekt in ihre Umgebung.

Es gibt aber nicht nur Kunst zu sehen, sondern auch Theater! Beispielsweise das Stück „Ich kotz Konfetti“ unter Regie von Caroline Pfänder. Die Hochschulgruppe „Die vierte Wand“ zeigt in der Krankenhauskapelle den Tagesablauf einer Magersüchtigen, die Welt zwischen Krankheit und Schönheitswahn. Apropos Theater: In Raum 21 präsentiert ein freies Performance-Team aus Bremerhaven, Leipzig und Konstanz die begehbare Installation „Äther“ in einem OP-Trakt. Es wird zu transzendentalen Nahtod-Erfahrungen kommen, aber auch zu phänomenalen Neugeburten. Die begehbare Installation ist zu jeder vollen Stunde für eine Person geöffnet. Außerdem wird Paul Voëll von der Paul Voëll Show an der Uni den Feierabend performativ ausklingen und dabei seine Seele richtig weit heraus baumeln lassen.

Zurück zur Kapelle. Dort zeigt nämlich auch Künstlerin Stefanie Scheurell ihre Arbeiten. Sie hat in einem riesigen Ölgemälde mit einem toten Vogel Elemente der Umgebung aufgegriffen: Farbverläufe an den Kapellenwänden oder das Lichtspiel der Glassteinfenster finden sich auf der Leinwand wieder.

Soviel vorab. Ein Rundgang am Wochenende zwischen den 113 beteiligten Akteuren birgt sicherlich für jeden unterschiedliche Highlights. Es gibt noch vieles mehr zu entdecken, zwischen Empfang, OP-Saal und den Patientenzimmern im ersten Stock: Streetartists, Fotographie, Musik, Tanz, Textilkunst, Bildhauerei, Literatur und das UniRadio warten auf Gäste. Also ab in den grünen Kittel und auf zur Visite!

Veronika Fischer (Text und Foto, dieser Text erschien zuerst auf www.thurgaukultur.ch)

Termine:
Freitag, 06.Juli : Vernissage ab 16 Uhr, offene Ateliers bis 22 Uhr
Samstag, 07.Juli: offene Ateliers 10 bis 22 Uhr, Fest(ival) im Innenhof
Sonntag, 08.Juli: offene Ateliers 12 bis 18 Uhr