B wie Beinahe
Lässt sich von einer verpassten Begegnung reden, wenn sich zwei Literaten nie begegnet sind, sich vielleicht auch nicht wahrgenommen haben auf den getrennten Ebenen des Literaturbetriebs? Bei Günter Eich (1907-1972) und Fritz Mühlenweg (1898-1961) kommt man leicht ins Träumen… Hier kommt für Seemoz erzählt ein Stoff, für den im Museum, das in den nächsten Monaten in Allensbach eröffnet werden wird, in der Rubrik „Seitenblicke“ nur Platz in einer Schublade bleibt
Frühjahr 1950. Der hager gewordene Mühlenweg bringt nach über zweijährigem Schreiben ohne Plan seinen ersten Roman dem Ende entgegen. Ein Roman, dessen menschenfreundlichste Szenen am Edsin-Gol spielen, dem Wüstenfluss, an dem er als 30-Jähriger mehrere Monate lang gelebt hatte.
Sein Verleger Hans Dulk in Hamburg, bei dem sein erstes Buch mit Übertragungen aus dem Shijing („Tausendjähriger Bambus“) erfolgreich läuft, bereitet bereits einen Vertrag vor. Der Dulk Verlag, eine Gründung der Nachkriegszeit, weitet sein Belletristik-Programm zügig aus, ein beginnender Megaseller („Die Barrings“) ist darunter. Aber Mühlenweg kennt Dulk als unzuverlässigen Planer und säumigen Zahler, und da er als Maler kaum mehr etwas verdient, ist er auf gesichertes Honorar aus. Er schickt ein dickes Kuvert mit seinem Text heimlich auch an Rowohlt in Hamburg.
Wie ein Hörspiel-Star entsteht
Für Günter Eich bot sich in jenem Frühjahr 1950 die Gelegenheit, einen alten Stoff zu verwerten und damit in die Hörspiel-Produktion der westdeutschen Sender einzusteigen. Der Süddeutsche Rundfunk suchte Stoffe für eine Sendereihe früher deutscher Hörspiele. Man wollte das Repertoire an szenischen Mitteln wieder hörbar machen, das nach der flüchtigen Radio-Ausstrahlung in Vergessenheit geraten war. Zudem galt es immer noch, den Traditionsbruch der Hitlerzeit zu verkraften und an die experimentelle Kunst vor 1933 anzuknüpfen.
Eich hatte ein Hörspiel, das seit fast 20 Jahren fertig war. Das Manuskript war freilich verloren, verbrannt mit anderem im Feuer nach einem Bombardement. Aber es lag gedruckt vor, in einem Heft, das er sich ausleihen konnte für eine Abschrift: „Der Traum am Edsin-Gol“. Im September 1950 wurde es gesendet. Im Haus Mühlenweg gab es immer noch kein Radio (davon war unter „T wie Technik“ mehr zu lesen). Er hätte – obwohl er zu anderen Schriftstellern gern Abstand hielt – über den Sender Eichs Adresse erfahren und ihn nach der Inspiration von „Edsin-Gol“ fragen können… Aber Mühlenweg saß damals über den Korrekturfahnen seines Romans, den Rowohlt abgelehnt hatte und der nun als Jugendbuch erschien bei Herder.
„Ein Traum am Edsin-Gol“ war nicht das erste Hörspiel, das Günter Eich geschrieben hatte, aber das erste, das er einst als junger Literat gedruckt sah: 1932, im letzten Heft der kurzlebigen Literaturzeitschrift „Die Kolonne“. Sein erster Gedichtband war damals schon erschienen. Von Gedichten konnte keiner leben, aber der Lyriker traute sich zu, mit Hörspiel-Arbeiten für die neuen Radiosender eine Existenz als freier Autor zu versuchen. Ein literarischer Freundeskreis in Dresden, zu dem er gehörte, heizte eine wechselweise Produktivität an.
Wie die Rundfunk-Programme sich plötzlich änderten
Im Januar 1933 sollte „Ein Traum am Edsin-Gol“ gesendet werden. Aber in jenem Monat – Hitler wurde Reichskanzler – veränderten sich manche Radioprogramme. Eich ahnte noch nicht, in welche Selbstentfremdung er sich in den Jahren danach bringen würde; gegen gute Honorare hat er bis in den Krieg hinein für den nationalsozialistisch kontrollierten Rundfunk zahlreiche Hörtexte geschrieben, die von Blut-und-Boden-Mythos bis zu anti-englischen Kampagnen Vieles mitmachten.
„Ein Traum am Edsin-Gol“: Ein Hörspiel-Sujet, das im chinesischen Großraum spielt, ist beim jungen Eich nicht verwunderlich. Er hatte ab 1925 Sinologie studiert, zuerst in Berlin, 1928/29 auch ein Jahr lang in Paris. Im Wintersemester 1926/27 hörte er in Leipzig bei dem mongolistisch spezialisierten Sinologen Erich Haenisch. Er wird damals nicht erfahren haben, dass in eben jenen Monaten die deutschen Teilnehmer der Hedin-Expedition, darunter Fritz Mühlenweg, in strenger Geheimhaltung von Berlin aus nach Ostasien fuhren.
Wie Mühlenweg zum Schauspieler wird
Möglich ist, dass Eich aber Sven Hedins Expeditionsbericht „Auf großer Fahrt“ (Brockhaus 1928) kennen lernte; darin sind die Grundlagen wissenschaftlicher Wetterbeobachtung und das Lager am Edsin-Gol geschildert. Er kann auch den Expeditionsfilm gesehen haben, der ab Mai 1929 im Berliner Ufa-Palast lief, ein Stummfilm, zu dessen Begleitung noch ein richtiges Orchester spielte. Sollte er über die Szene am Edsin-Gol gelacht haben, in der einer mit seinem Kanu umkippt – er hätte nicht erfahren, dass Mühlenweg sich extra für den Filmoperateur Lieberenz ins Wasser fallen ließ, damit Action aufkam.
Vielleicht ist Eich aber auch dem Desaster am Edsin-Gol als sensationeller Medienstoff begegnet. „Mord und Totschlag in der Wüste Gobi“: was Eich in seinem Hörspiel einen Zeitungsverkäufer ausrufen lässt, kann er sehr wohl in Berliner Zeitungen gelesen haben. Denn in jener Wetterstation am Edsin-Gol, die von der Hedin-Expedition eingerichtet worden war, hatte nach zwei Jahren in der Wüsteneinsamkeit ein junger Chinese durchgedreht, hatte einen mongolischen Helfer ermordet und sich dann selbst umgebracht. (Mühlenweg wurde Ende 1929 zur Heimführung des deutschen Stationsleiters nach China geschickt. Im Museum zeigen wir Sven Hedins handschriftlichen Brief, in dem er seine Version des Unglücks am Edsin-Gol zu Protokoll gibt.)
Eichs Hörspiel ist fast monologisch angelegt, gibt aber geschickt über Traum- und Alptraumsequenzen anderen Stimmen immer wieder Raum. Es spielt in einem Zelt am Edsin-Gol. Die Story: Zwei Jahre schon harren dort die jungen Wissenschaftler Ludwig Krämer und Bernhard Godemann aus, um täglich Wetterbeobachtungen festzuhalten. Ludwig hat seinen Gefährten, der am 10 km entfernten Fluss Edsin-Gol Wasserstandsmessungen ausführen will, mit vergiftetem Trinkwasser losgeschickt und halluziniert allein und bei steigendem Alkoholspiegel, dass sein Mord glückt. Er wird als Universalerbe den Reichtum seines Gefährten erben und hofft, dass auch dessen ferne Geliebte Maria, die ihren Ludwig mit Briefen verwöhnt, ihm zufallen wird. Eine paar Stunden lang halluziniert er sich in ein Glück, das ihm seine soziale Herkunft und sein bisheriges Leben vorenthalten haben. Gegen das christlich-bürgerliche „Wer hat, dem wird gegeben“ setzt er den Protest „Hat ein Mensch das Recht, glücklicher zu sein als ein anderer?“
Wie einer sein Glück verliert
Er wird bald von den Stimmen der Rache und Angst verfolgt. Am andern Morgen kehrt aber überraschend der Totgeglaubte zurück. (Ein Trick aus der Literatenkiste: Das vergiftete Wasser war zufällig stehen geblieben…) Ludwig kann die Spur seines Anschlags verwischen und findet wieder aus seinem Wunschwahn heraus; er wird nicht in ein glücklicheres Leben umsteigen können. Das Stück endet in der resignativen Selbstbescheidung („Keiner verliert sein Glück, weil ein anderer es will, und niemand wird glücklicher mit Gewalt.“)
Günter Eich wählte die Wüstenszenerie als Ort für den perfekten Mord, weit ab von aller Zivilisation. In der leeren Landschaft und der betäubenden Stille können sich Wahnideen und Wünsche ungehindert entfalten. Eich würzte sein Stück mit Passagen jenes surrealen Humors, der zum Kennzeichen späterer Hörspiele wurde – er wurde der große Meister des Genres in den Fünfzigerjahren. Das realistische Inventar, das er verwendet, bleibt aber erstaunlich. In einem Zelt der Hedin-Expedition hatte tatsächlich ein Grammophon gestanden, wie es im Hörspiel vorkommt. Die geographische Situierung des Edsin-Gol stimmt auf Breiten- und Längengrad genau. Sogar die angegebene Temperatur der Wetterbeobachtung, 8,2 Grad, ist für Oktoberanfang realistisch; die wirkliche Expedition hat erst zu Beginn der zweiten Oktoberwoche ein Absinken der Temperaturen unter den Gefrierpunkt erlebt – nachzulesen, fürs Jahr 1927, bei Sven Hedin (Auf großer Fahrt, S. 180).
Wie Wüste zur Metapher wird
Mühlenweg hätte das Motiv der entsetzlichen Langeweile wie auch des Lebensverlusts an eine stur messende Wissenschaft in Ludwigs Monologen („Vier Jahre meines Lebens versäumte ich, um zu erfahren, wieviel Regen am Edsin-Gol-Fluss fällt“), nach den vielen Monaten Wetterbeobachtung in der Gobi leicht bestätigen können. Er hätte für sich sogar den Namen der weiblichen Phantasmagorie des Hörspiels vertauschen können: „Aber Maria, wo ist Maria? Wissenschaft: Wasserstand am Edsin-gol, und unterdessen geht Maria durch die Straßen, schlank und braunhäutig.“ (Eich, Ein Traum vom Edsingol, S. 12). Lotte hätte er sagen können, statt Marie; uns ist der Name hier schon begegnet in „B wie Bildverwahrung“. Im Oktober 1931 – nicht dem fiktiven, den sich der Literat Eich als Zeitraum seiner Mordphantasie griff, damit sich das Ganze aktuell anhörte – im wirklichen Oktober 1931 richtete der Kamelführer Mühlenweg am herbstlichen Edsin-Gol das Winterlager seiner letzten Expedition ein.
Günter Eich hätte solche Aufmerksamkeit für sein realistisches Dekor nur am Rand interessiert. Ihm war der Edsin-Gol ein exotisch klingender Vorwand für ein psychologisches Drama, die Wüste wurde ihm Metapher für die Leere einer verwirrenden Existenz. In seiner Wüste leben keine Mongolen, nur ausgesetzte Wissenschaftler gehen ihren abendländischen Mess-Obsessionen nach. Am Anfang des Monologs sagt sein potenzieller Mörder: „Und was heißt sogar Mongolei, was heißt Fluss und Himmel? Nicht wahr, das sind alles Dinge, die es nicht gibt, alles bloß Worte, damit wir uns im Leeren zurechtfinden?“.
Autor: Ekkehard Faude
PS: Spezieller Dank an Adrian Winkler vom WDR: ein Mühlenweg-Leser, der mich vor Jahren auf Eichs Hörspiel aufmerksam machte.
Vorabdruck aus dem im Frühjahr 2012 erscheinenden Buch: Ekkehard Faude: Fritz Mühlenweg – Museum eines Lebens. Copyright: Libelle Verlag