Zum Kotzen
„Nie wieder Rassismus in Radolfzell“ hieß es auf einem der Schilder, mit denen am späten Mittwoch Nachmittag TeilnehmerInnen einer Mahnwache vor dem Radolfzeller Innovationszentrum RIZ protestierten. Gut 120 Menschen hatten sich eingefunden, um gegen eine Veranstaltung der rechten AfD Flagge zu zeigen. Einmal mehr wurde das städtische Ordnungsamt dabei seinem Ruf gerecht, gegen alles, was nach linker Meinungskundgebung riecht, so kleinlich wie nur möglich vorzugehen.
Die Polizei war mit einem Großaufgebot vor Ort und sorgte auf Geheiß der AfD-Funktionäre dafür, dass kein/e DemontrantIn einen Fuß auf das Grundstück des RIZ setzen konnte. Gleich zu Beginn hatte die Einsatzleitung um den örtlichen Revierleiter Willi Streit, sekundiert von Ordnungsamts-Abteilungsleiterin Regina Kerschhofer und RIZ-Chef Bernhard Bihler, seine Einsatzkräfte die Demonstrierenden vom Haupteingang des Gebäudes verscheuchen lassen. Eine Situation, die nicht nur der Anmelder der Mahnwache, der SPD-Kreisvorsitzende Tobias Volz, als unerträglich empfand (O-Ton: „Als gute Demokraten halten wir uns an die Gesetze, finden das aber zum Kotzen“). Sichtlich zufriedene AfD-Mitglieder, darunter der Kreisvorsitzende Walter Schwaebsch, konnten zur Kenntnis nehmen, dass „deutsche Polizisten wieder einmal Faschisten schützen“, wie einer der DemonstrantInnen erbost feststellte.
Die Veranstaltung hatte ein Publikum mobilisiert, das der Aussage Gewicht verlieh, dass Radolfzell ein Ort der politischen und kulturellen Vielfalt ist. GewerkschafterInnen und Antifa-AktivistInnen, AnhängerInnen von Parteien (erkennbar waren SPD, Grüne, Linke) und Mitglieder örtlicher Initiativen warnten mit Schildern, Transparenten und Nazi-raus-Rufen vor den Rechtsextremen. Aber auch erfreulich viele ob der Rechtsentwicklung alarmierte Bürgerinnen hatte das AfD-Treffen zum Protest vor das RIZ getrieben. Als besondere Provokation empfanden viele TeilnehmerInnen den Tagungsort, an dem sich die von einem völkisch-nationalistischen Flügel dominierte AfD versammeln durfte. Handelt es sich beim RIZ doch um eine ehemalige SS-Kaserne, die von 1937 an dort stationierten Einheiten waren für zahlreiche Verbrechen in der Region verantwortlich.
So griff etwa Alfred Heim, GEW-Gewerkschafter und Mitglied im örtlichen „Bürgerbündnis für Demokratie“ den RIZ-Geschäftsführer scharf an: „Herr Bihler, sie kennen die Geschichte des Hauses“. Es sei unerträglich, dass die Verantwortlichen die AfD dort tagen ließen. Auch Simon Pschorr, 2017 Bundestagskandidat der Linken, verwies auf den historischen Bezug. Es sei eine „Schande“ für die Stadt und den Eigentümer, dass an diesem Ort „ehemaliger Menschenfeindlichkeit heute wieder eine menschenfeindliche Partei unterkommt“. Bei der AfD handele es sich nicht um „eine normale konservative Partei“, sondern um Faschisten, deren Ziel die Zerschlagung der Demokratie sei. Ähnlich äußerte sich der Radolfzeller FGL-Stadtrat Siegfried Lehmann, der aufforderte, den „ewig Gestrigen“ nicht das Feld zu überlassen. „Die Menschen da drinnen, das ist nicht Radolfzell“.
Ob übrigens die AfD-Parteivorsitzende Alice Weidel nun tatsächlich an der „internen Veranstaltung“ der neuen Braunen teilgenommen hat, wie es im Vorfeld hartnäckige Gerüchte behaupteten, blieb auch am gestrigen Abend unbekannt. Selbst wenn die Frontfrau nicht vor Ort gewesen sein sollte, bleibt das Rechtentreffen skandalös. Wer soll eigentlich glauben, dass die Geschäftsführung des RIZ nur zu naiv war, um die politische Brisanz einer solchen Veranstaltung zu erkennen? Die Stadt Radolfzell, die selbst in die Geschäfte des Zentrums involviert ist, wäre gut beraten, den RIZ-Chef Bihler deswegen zur Rede zu stellen. Und auch die wieder einmal zur Schau gestellte polizeiliche Drohkulisse gegen friedliche KundgebungsteilnehmerInnen wirft Fragen auf. Die gestern anwesenden Stadträte könnten im Gemeinderat ja mal nachhaken.
jüg (Text/Foto)
Nicht ganz unwichtig zu erwähnen ist, wo diese AfD-Propaganda-Show, als „interne Tagung“ bezeichnet und zugleich live gestreamt, stattgefunden hat. Alice Weidel traf sich – wohl nicht zufällig und nicht ohne Kalkül – in den Räumlichkeiten der ehemaligen Waffen-SS-Kaserne von Radolfzell am Bodensee. Ihre Rede hielt sie in einem der ehemaligen Mannschaftsgebäude, in denen zwischen 1937 und 1945 Tausende Angehörige der Waffen-SS stationiert waren, um auf den ideologischen NS-Vernichtungskrieg vorbereitet, militärisch ausgebildet und weltanschaulich geschult zu werden. Zugleich war das Kasernenareal Sitz eines Dachauer KZ-Außenkommandos. Radolfzell ist vor diesem Hintergrund seit 2014 ein Gedenkstättenort und steht in der Verantwortung, seine NS- und SS-Geschichte kritisch aufzuarbeiten. In unmittelbarer Nähe zum Tagungsgebäude befindet sich seit 2013 eine Informations- und Gedenkstätte, die über die Geschichte des Areals aufklärt. Von alle dem hört man in Weidels Rede natürlich nichts. Stattdessen diffamierte die intellektuell deutlich überforderte AfD Konstanz in ihrem sogenannten „Tagungsbericht“ die angemeldete Demonstration an der Gedenkstätte, deren Anliegen es war, darauf hinzuweisen. Der Auftritt der AfD Konstanz und Alice Weidels in den Räumlichkeiten der ehemaligen Waffen-SS-Kaserne und in unmittelbarer Nähe der „Gedenkstätte ehemalige SS-Kaserne /KZ-Außenkommando Radolfzell“ hat die Gedenkstättenarbeit und Erinnerungskultur der Stadt Radolfzell zu diskreditieren und zu beschädigen versucht und war ein Schlag ins Gesicht jener, die sich zivilgesellschaftlich für dieses Erinnerungsprojekt in Radolfzell seit Jahren einsetzen. Vielen Dank auch an Herrn Bihler, der sehr genau wusste, was er tat und warum. Wie wichtig lokale wie überregionale Erinnerungskultur in Deutschland heute ist, zeigen nicht zuletzt die unsäglichen Auslassungen Gaulands und Höckes zum Thema („Vogelschiss der Geschichte“, „Denkmal der Schande“). Frau Dr. Weidel empfehle ich den nachträglichen Besuch der Radolfzeller Gedenkstätte „ehemalige SS-Kaserne / KZ-Außenkommando“ in Radolfzell, die Adresse kennt sie. Vielleicht hilft’s ja.
der besagte Film von Weidels Auftritt wurde auf der FB-Seite inzwischen wieder gelöscht. Der „Tagungsbericht“ bestätigt die Anwesenheit aber auch; und auch sonst so Einiges…
Frau Weidels Auftritt und Rede in den Räumlichkeiten der vormaligen Waffen-SS-Kaserne Radolfzell ist inzwischen vom AfD-Kreisverband Konstanz filmisch dokumentiert : https://www.facebook.com/AfDKonstanz/posts/1622026831252590