Es ist eine Schande, was Europa da gerade vorführt

„Konstanz sollte es anderen Städten gleichtun und sich zu einem sicheren Hafen erklären“. Der Appell der Konstanzer Organisatoren wurde zum Höhepunkt der zweistündigen Seebrücke-Demo am letzten Samstag: Gut 300 Menschen protestierten gegen die Abschottungspolitik Europas und für sichere Häfen nicht nur am Mittelmeer.

Botschaft aus Malta

28. Juli, 13 Uhr, Benediktinerplatz zu Konstanz: Glasklar schallen die Stimmen junger deutscher Seenotretter, die von den maltesischen Behörden festgesetzt wurden, aus den Lautsprechern über den Platz: „Wir geben nicht auf – wir werden weiter aufs Meer fahren, um Flüchtlinge aus Seenot zu retten – aber wir brauchen Eure Unterstützung in Deutschland, um den Politikern jetzt Druck zu machen – wir auf See, Ihr auf der Straße: Gemeinsam für mehr Hilfe und mehr Humanität“.

300facher Applaus brandet auf, ein perfekter Auftakt der Demonstration „Schafft sichere Häfen“, die ein kleiner Unterstützerkreis der erst einen Monat alten Organisation „Seebrücke“ in Konstanz auf die Beine gestellt hat. Über die Fahrradbrücke geht es im weiten Bogen durch die Innenstadt auf die Marktstätte: „Wir sind nicht alle, es fehlen die Ertrunkenen“ und „Nationalismus raus den Köpfen“ und „No border, no nation – stop deportation“ hallt es durch die Gassen. Nach 90 Minuten trifft man sich dann auf der Marktstätte zu einer eindrucksvollen Schlusskundgebung.

Hilfe aus Zürich

Dort schilderte Reto Plattner die Arbeit seiner Gruppe „Watch The Med – Alarmphone“ aus Zürich. Das von Freiwilligen getragene Hilfsprojekt organisiert ein Call-Center für in Seenot geratene Geflüchtete, im Schichtdienst hängen die Helfer an den Funkgeräten und versuchen, Hilfe zu organisieren. Häufig vergeblich, wie Plattner erklärte, denn allein im Juni seien 1500 Menschen bei ihrem Fluchtversuch ertrunken, 1400 Flüchtlinge werden immer noch vermisst. Wie andere Redner auch appellierte er an die „Politiker im reichen Europa“, die Grenzen für die Geflüchteten unverzüglich zu öffnen und ihre „Abschottungspolitik“ einzustellen.

Friedhold Ulonska aus dem schwäbischen Rottenburg hat als Kapitän der Seenotrettungsgruppe Sea Eye sechs Rettungsmissionen geleitet. Eindrucksvoll berichtete er von seinen Einsätzen und warum er jetzt auf der Marktstätte ist und nicht auf See. Wir dokumentieren seine Rede mit nur kleinen redaktionellen Ergänzungen:

„Wir haben unsere Pflicht getan und Menschen aus Seenot gerettet“

Guten Tag,
vor fast genau einem Jahr war ich auf der „Sea-Eye“ vor der libyschen Küste als Kapitän im Einsatz. Wir waren acht Menschen an Bord. Innerhalb von nur zwei Tagen – am 11. und 12. Juli – wurden 6920 Menschen aus mehr als 50 Booten vor dem Ertrinken gerettet. Alle Retter haben bis zur Erschöpfung gearbeitet: Wir, die Freunde auf 10 Schiffen anderer ziviler Hilfsorganisationen, die Männer und Frauen an Bord eines halben Dutzend Schiffe der italienischen Küstenwache, die Soldatinnen und Soldaten auf noch einmal genauso vielen europäischen Marineschiffen. Gemeinsam konnten wir diese Menschen retten – soweit ich weiß, musste niemand sterben. Das haben wir gemeinsam geschafft – zivile Helfer, Polizei und Militär haben bestens zusammen gearbeitet, um zu tun, was jedes Seemanns Pflicht ist: Menschen in Not auf dem Meer zu helfen, ungeachtet ihrer Herkunft, ungeachtet der Umstände, ungeachtet der Gründe, die sie in ihre Notlage gebracht haben.

In diesem Jahr ist alles anders. Ich wäre gern mit meiner Crew auf der „Seefuchs“ – das ist ebenfalls ein Schiff von „Sea Eye“ – Anfang Juli wieder ausgelaufen. Es wäre meine siebte Mission gewesen, die ich mit dieser Organisation oder auf Schiffen der anderen deutschen Hilfsorganisationen Sea-Watch und Mission Lifeline gefahren wäre. Doch daraus wurde nichts: Unsere Schiffe wurden und werden im Hafen von Valletta auf Malta festgehalten. Wir haben Auslaufverbot – mit fadenscheinigen Begründungen.

Der Kapitän der „Lifeline“, den man mit 230 Geretteten an Bord tagelang nicht in den Hafen gelassen hat, steht für seine Rettungstat sogar in Malta vor Gericht – das hatte der Herr Seehofer so gefordert. Zuvor schon hat Italien seine Häfen für Schiffe geschlossen, die Flüchtende an Bord haben – inzwischen lassen sie selbst ihre eigenen Marineschiffe nicht mehr rein. Tagelange Irrfahrten auf dem Mittelmeer waren die Folge – jeder hier erinnert sich sicher noch an Berichte über die „Aquarius“, die „Open Arms“ und andere, die bis nach Spanien fahren mussten, um ihre Gäste in einen sicheren Hafen bringen zu können. Was für ein Skandal!

Die Politik will eine Festung bauen

Dafür gab es damals ein großes Medienecho. Heute sitzen wieder 50 Menschen auf einem Schiff fest – seit nunmehr 16 Tagen! Kein Land lässt sie in den Hafen, weder Malta noch Italien, und selbst Tunesien nicht – man will „keinen Präzedenzfall schaffen“, heißt es zur Begründung. Seit 16 Tagen! Und kaum einer nimmt noch Notiz davon.

Es ist eine Schande, was Europa da gerade vorführt. Die Politik will eine Festung bauen, sich abschotten, dichtmachen – so, als gelte es, unseren Kontinent gegen barbarische Horden zu verteidigen. Europa legt seine zivilen Helfer an die Kette. Selbst das zivile Suchflugzeug Moonbird darf nicht mehr starten. „Moonbird“ hat viele Boote von Flüchtenden entdeckt, die sonst keiner gefunden hätte. „Moonbird“ hat auch dokumentiert, was niemand sehen soll: Zweimal hat die Besatzung z.B. beobachtet, wie europäische Marineschiffe das Weite suchten, als sie in die Nähe eines Flüchtlingsbootes kamen. Gegenkurs und Hebel auf den Tisch.

Ich kann es leider nicht anders sagen: So tötet Europa Menschen

Offenbar ist sich Europa darin einig, dass Humanität, dass Menschenrechte, dass die Genfer Flüchtlingskonvention nur für Europäer, nur für Weiße gilt, deren Wohlstand es zu verteidigen gilt. In solchen Selektionen haben wir Deutschen ja Erfahrung. Im Inneren Europas ist es mit dieser fragwürdigen Einigkeit dann aber auch schnell vorbei. Man schiebt sich die Geflüchteten gegenseitig zu. Es gibt keine Solidarität in der Menschlichkeit. Bald werden geflüchtete Menschen zwischen den Staaten herumtreiben wie jetzt die Boote auf dem Meer. „Das ist nicht mein Problem, das ist Dein Problem“, rufen sich die Innenminister in diesen Tagen ja schon zu.

Das Schlimmste daran ist: Das alles geschieht auf dem Rücken gequälter Menschen. Ich habe viele von ihnen gesehen und kennengelernt. Ich habe ihre Geschichten gehört und das Entsetzen in ihren Augen gelesen, wenn sie von ihren Erlebnissen in Libyen erzählten – stotternd meist, denn das lässt sich mit Worten nicht beschreiben. Schlechte Verpflegung, unzumutbare Camps, fehlende Hygiene sind noch die kleinsten Probleme. Da geht es um Folter und Vergewaltigung. Man lässt die Menschen ihre Verwandten anrufen und prügelt sie dabei – die Schmerzensschreie sollen der Erpressung Nachdruck verleihen. Da werden Menschen demonstrativ erschossen, in Zwangsarbeit gesteckt oder als Sklaven verkauft, für 400 Euro das Stück.

Das alles geht Europa nichts an? Da fällt unseren Politikern nichts anderes ein, als dichtzumachen? Und, noch schlimmer: Da finanziert man libysche Milizen wie die sogenannte Küstenwache, damit sie für Europa die Drecksarbeit machen und diese armen Menschen eingesperrt halten? Diese Küstenwache ist nichts anderes als ein Haufen Gangster, die selbst im Geschäft mit dem Menschenhandel ihr Geld verdienen. Jetzt werden sie dafür auch noch von der EU bezahlt, mit meinem und Deinem Steuergeld.

„Lieber im Meer ertrinken als nach Libyen zurück“

Leute, in Libyen brennt es lichterloh. Die Menschen, die dort in den Lagern sitzen – egal, warum sie dorthin gekommen sind – können nicht zurück in die Heimatländer. Dieser Weg ist ihnen versperrt. Die einzige Möglichkeit, der Hölle in Libyen zu entkommen, ist über das Meer. Selbst das können sie sich nicht aussuchen: Erst, wenn ihre Peiniger sie ausgepresst haben wie eine Zitrone, erst, wenn die Frauen von ihren Vergewaltigern schwanger sind, werden sie auf die Boote geschleppt. Viele haben mir gesagt, sie ertrinken lieber im Meer als nach Libyen zurück zu gehen: Das geht wenigstens schnell. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass schon gerettete Menschen verzweifelt ins Meer sprangen, als ein libysches Schiff auftauchte – aus purer Angst, in die Hölle zurück zu müssen.

Das alles geht Europa nichts an? Aus den Augen, aus dem Sinn?

Uns, die zivilen Seenotretter, legt man an die Kette, damit wir nicht helfen können. Man schikaniert die Schiffe. Man sieht ungerührt zu, wie die Flüchtenden absaufen.

Ich höre jetzt oft: Ihr lockt die Leute doch erst auf das Meer. Das ist nachweislich falsch und verdreht die Tatsachen: Wir, die zivilen Seenotretter, sind erst entstanden und gekommen, weil die Menschen geflohen sind – und weil die EU-Staaten 2014 ihre Rettungsmission eingestellt haben. Seitdem die EU angefangen hat, die zivile Rettung zu behindern, hat sich die Zahl der Flüchtenden in Libyen mehr als verdoppelt – eine Million Menschen warten dort jetzt. Wir wären gerne überflüssig!

Ich höre jetzt oft: Sorgt doch lieber dafür, dass die Menschen keinen Grund mehr haben zu fliehen. Ja klar, das ist auch unser Wunsch! Aber es ist wie bei der Feuerwehr: Wenn ein Haus brennt, dann hilft es niemandem, wenn man über Brandschutz diskutiert. Dann muss man erstmal löschen.

Ich höre jetzt oft: Wir können doch nicht alle aufnehmen! Natürlich nicht, das will auch niemand. Und natürlich sind die Geflüchteten für Europa eine Herausforderung. Aber sollen wir sie deshalb ertrinken lassen? Und wer sonst als das reiche Europa – das seinen Wohlstand nicht zuletzt der Ausbeutung Afrikas verdankt – könnte diese Herausforderung stemmen?

Ich höre jetzt oft: Ihr bringt die ganzen Verbrecher in unser Land. Das ist Quatsch. Die weitaus meisten Ganoven sind immer noch Biodeutsche, wie das in bestimmten Kreisen heißt. Und natürlich (sic!) sind unter 1.000 Geflüchteten auch einige Arschlöcher und Verbrecher. Aber nicht mehr als unter tausend Badenern, Schwaben oder Bayern.

Wir, Sea-Eye und die anderen zivilen Retter, sind kein Taxi-Dienst. Wir sind der Notarztwagen. Unsere Mission ist es, das Schlimmste zu verhindern, wenn es schon fast zu spät ist. Wir alleine schaffen es nicht auch noch, die Ursachen zu beseitigen. Wir schaffen es nicht auch noch, die Folgen zu bewältigen – gerade dafür gibt es Gott sei Dank andere Initiativen, zu denen viele von Euch gehören. Vielen Dank für Eure Arbeit!

Das Seerecht gilt selbst auf dem Bodensee

Ich bin an der Nordsee aufgewachsen. Ich wohne seit meinem Studium in Rottenburg. Vor knapp 20 Jahren habe ich das Bodensee-Schifferpatent gemacht. Es war für mich nur eine kurze theoretische Prüfung im Multiple-Choice-Verfahren – bei aller Eigenständigkeit der See-Staaten wurden mir meine Patente für die Praxisprüfung anerkannt. Ich bekam Frage 302: „Was tun Sie, wenn ein Mitglied Ihrer Crew über Bord geht?“ Es gab drei Antworten zur Auswahl:
– Ich gebe Vollgas, fahre in den nächsten Hafen und hole Hilfe.
– Ich werfe Rettungsmittel aus und versuche, das Crewmitglied wieder an Bord zu nehmen.
– Ich setze die Flagge auf Halbmast.

Ich denke, auch jeder Nicht-Seemann hier weiß intuitiv, was die richtige Antwort war … Der humorvolle Beamte, der sich diese Antworten ausgedacht hat, ist sicher längst in Pension. Er hat sich bestimmt nicht träumen lassen, dass heute Politiker die dritte Antwort durchsetzen wollen: Krokodilstränen OK, aber bloß nicht retten! Denn genau das ist es, was Europa gerade vormacht.

Müssen wir jetzt die Bodensee-Schifffahrtsordnung ändern? Nein, das werden wir nicht, sie und das internationale Seerecht bleiben, was die Rettung von Menschen in Not angeht, natürlich wie sie sind. In meinem Europa gilt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das ist nicht umsonst der erste Artikel der EU-Charta und des deutschen Grundgesetzes. Der erste! Alle anderen Themen sind zweitrangig.

Bei den Seehofers und Salvinis und Kurzen gilt diese Priorität nicht mehr. Da gehen Wählerstimmen vor Humanität – Menschenrechte hin oder her. Natürlich muss der Seehofer weg! Natürlich brauchen wir eine Regierung, die nicht von Stacheldraht spricht, sondern vom Leiden der Flüchtenden. Natürlich brauchen wir ein Europa, dass keine Festung baut, sondern alle Menschen als das behandelt, was sie sind: Menschen.

„Lasst uns den Wind drehen“

Unsere Politiker sind jetzt im Urlaub, vielleicht am Mittelmeer, falls sie sich dort trotz der Asyltouristen, der Migrantenflut, der Invasion aus Afrika noch hintrauen. Ich habe den Eindruck, sie richten sich immer ungenierter nicht mehr nach Grundsätzen und Werten, sondern nur noch nach dem Wind, den sie aus ihrem Wahlvolk wahrnehmen. Das bayrisch-Berliner Schmierentheater vor einigen Wochen war dafür eine passende Inszenierung.

Wenn das so ist: Lasst uns diesen Wind ändern!

Momentan weht er kräftig von rechts. Lasst uns den Wind drehen, so dass er von links, von oben oder unten kommt. Zeigen wir den Politikern, dass der brüllende Sturm aus dem rechten Sumpf nicht „das Volk“ ist! Die „Seebrücke“ ist ein starkes Zeichen dafür, dass sich die Gesellschaft diese Vereinnahmung nicht gefallen lässt. Diese Demonstration heute ist ein Eckpfeiler. Lasst uns so weitermachen – gemeinsam in Orange und jeder an seinem Platz!

Friedhold@Ulonska-online.de

hpk (Text/Fotos)