„Eine nicht mehr zu überbietende Dreistigkeit“

In langer Reihe strömen sie um Punkt 11.55 Uhr am Pförtnerhaus vorbei durch das Werkstor: Nahezu geschlossen verlässt die Frühschicht das Fabrikgelände. Feierabend haben sie allerdings noch lange nicht, eigentlich würde die Schicht bis 14 Uhr dauern. Heute, „Fünf vor Zwölf“, folgen die ArbeiterInnen und Angestellten von Maggi in Singen dem Aufruf der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) zum Warnstreik, dem sich später auch KollegInnen der Nachmittagsschicht anschließen.

Um die 350 Beschäftigte versammeln sich nach und nach vor dem Haupteingang des bekannten Lebensmittelherstellers, bei dem in der Stadt unter dem Hohentwiel immer noch rund 750 Menschen arbeiten. „Die Produktion steht still“, kann Alfred Gruber, der Betriebsratsvorsitzende des Singener Maggi-Werks, wenig später zufrieden feststellen.

Erster Jubel brandet auf, als ein Bus vor dem Werkstor eintrifft, mit dem eine starke Delegation der von Schließung bedrohten Nestlé-Firma Unifranck (Caro-Kaffee) aus Ludwigsburg zur Unterstützung der Singener KollegInnen angereist ist. Auch Abordnungen aus den süddeutschen Standorten Biessenhofen und Weiding können die Warnstreikenden begrüßen.

Mit ihrem Protest verleihen die Maggianer, wie sie überall in der Stadt genannt werden, ihrer Empörung über die Pläne des Mutterkonzerns Nestlé Ausdruck, der seinen deutschen Standorten einen Rundum-Kahlschlag verpassen will (seemoz berichtete). Dabei, erzählt eine der Streikenden, werde im Betrieb sowieso schon immer weniger Beschäftigten immer mehr Leistung abverlangt. „Die Leute, die da sind, müssen immer mehr arbeiten, Jüngere werden nicht mehr eingestellt“, der Altersdurchschnitt in Singen sei inzwischen „50 Plus“. Es könne nicht sein, sagt die langjährige Maggi-Angestellte, „dass die Aktionäre immer mehr Geld bekommen, auf unsere Kosten“.

Jetzt will die Chefetage im schweizerischen Vevey noch einen draufsetzen. In mehreren Niederlassungen sollen hunderte Arbeitsplätze gestrichen werden, in Ludwigsburg beabsichtigt der Vorstand, zum Jahresende gleich das ganze Caro-Werk dicht zu machen. Auch den Lohnabhängigen in Singen hat man die Pistole auf die Brust gesetzt. Zwei Jahre Nullrunden beim Lohn, Kürzungen bei Sonderzahlungen und eine Wochenstunde unbezahlte Mehrarbeit verlangt die Konzernspitze.

„Es ist nicht fair: Wir leisten gute Arbeit, dafür wollen wir einen gerechten Lohn, keine Einbußen“, empört sich Richard Drechsler, seit 38 Jahren beim Lebensmittelhersteller in der Produktion beschäftigt. Die Umsetzung der Nestlé-Pläne würde für die Beschäftigten „mit Sicherheit weniger Arbeitsplätze“ bedeuten, Nullrunden und Kürzungen beim Urlaubs- und Weihnachtsgeld, rechnet er vor, zudem zu Lohneinbußen von sechs Prozent führen. „Das können wir uns nicht gefallen lassen“, zeigt sich Drechsler kampfbereit, dessen Eltern schon beim Singener Würzespezialisten gearbeitet haben.

Die Wut vieler Beschäftigter ist nur zu verständlich, legt der Konzern mit den Einsparungsplänen doch auch die Axt an erkämpfte Tarifvereinbarungen. Ihre Ankündigung pünktlich zum Beginn der Tarifverhandlungen, bei der die NGG sechs Prozent mehr Lohn fordert, betrachten die GewerkschafterInnen zu Recht als Kampfansage. Entsprechend harsch fiel die Kritik von Uwe Hildebrandt am Verhalten des Nestlé-Konzerns aus. Der eigens zur Unterstützung der Streikenden angereiste NGG-Landesbezirksvorsitzende, in der Tarifrunde auch Verhandlungsführer der Gewerkschaft, bezeichnet in seiner immer wieder von Beifall unterbrochenen Rede die Forderungen der Konzernspitze als nicht mehr zu überbietende Dreistigkeit. „Sie wollen euch kein Weihnachtsgeld mehr bezahlen, kein Urlaubsgeld mehr bezahlen, sie wollen, dass ihr eine Stunde pro Woche umsonst arbeitet und sie wollen zwei Jahre eine Nullrunde.“ Eine solche Respektlosigkeit gegenüber den Arbeitnehmern könne man sich nicht bieten lassen.

Unter dem Jubel der Streikenden verspricht Hildebrandt, bei den am Mittwoch stattfindenden Tarifverhandlungen werde es kein Einknicken geben. „Wir haben es doch nicht mit einem notleidenden Unternehmen zu tun.“ Die geforderte Rendite von 18,5 Prozent sei bar jeder Vernunft und Gerechtigkeit. „Das ist Absahnen auf Kosten der Beschäftigten, das machen wir nicht mit, dagegen leisten wir Widerstand.“

Betriebsratsvorsitzender Alfred Gruber, der auch dem Gesamtbetriebsrat der deutschen Nestlé-Niederlassungen vorsteht, hebt in seinem Beitrag insbesondere hervor, dass der Versuch der Konzernzentrale, die Belegschaften zu spalten, misslungen sei. Obwohl in unterschiedlichem Ausmaß von den Sparplänen betroffen, stünden die Beschäftigten der einzelnen Standorte solidarisch gegen die Konzernspitze zusammen, ob in Singen, Ludwigsburg, Biessenhofen oder in Weiding.

Auch Reiner Eich, der aus Frankfurt angereiste Betriebsratsvorsitzende der deutschen Nestlé-Zentrale, ruft zu Solidarität auf, auch über Landesgrenzen hinaus. Er berichtet von Nestlé-KollegInnen in Indonesien, die Unterstützung für den Kampf der deutschen KollegInnen signalisiert haben, weil sie fürchten, im Fall einer Niederlage „wie die Zitronen ausgepresst zu werden“. Eich kündigt zudem eine Demonstration vor dem Konzernsitz in Vevey an, mit der am 2. Oktober Druck für die Forderungen von Beschäftigten und Gewerkschaft gemacht werden soll.

Druck, der bitter nötig sein wird, wie NGG-Verhandlungsführer Hildebrandt im Gespräch mit seemoz bestätigt. In Unterredungen mit der Führung habe er den Eindruck gewonnen, dass Nestlé nicht gewillt sei, sich zu bewegen. „Alles was wir hören ist ein Festhalten an den Forderungen nach Kürzung des Weihnachts- und Urlaubsgeldes, unbezahlter Mehrarbeit und Nullrunden.“ Für die NGG sei indes völlig klar: „Es wird keine Eingriffe in den Tarifvertrag geben, und wir wollen eine Lohn- und Gehaltserhöhung, die sich an dem orientiert, was wir im Bereich der Nährmittelindustrie abgeschlossen haben“. Hildebrandt rechnet deshalb mit einem Scheitern der Verhandlungen. Für die dann folgende Urabstimmung über einen Streik sieht man sich gut gerüstet. „Die Belegschaften sind dafür bereit“, sagt der Gewerkschafter mit Blick auf die vor dem Werk Versammelten.

An der Bereitschaft der ArbeiterInnen und Angestellten, das hat dieser Warnstreik-Tag deutlich gezeigt, wird ein Arbeitskampf nicht scheitern. Er würde auch um die Frage geführt, ob Kapitaleigner andere Menschen wie Dreck behandeln dürfen, um wenigen Aktionären noch ein paar Millionen mehr zu bescheren. Die Auseinandersetzung hat deshalb weit über das Werksgelände hinaus Relevanz. Zivilgesellschaft und Politik sind aufgefordert, Stellung zu beziehen.

J. Geiger (Text und Fotos)