Warum der Verfassungsschutz aufgelöst gehört
Der Rechtsextremismusexperte Hajo Funke sieht im deutschen Verfassungsschutz (VS) ein Sicherheitsrisiko für Staat und Gesellschaft. Die Staatsaffäre um das V-Mann-Desaster habe das ganze Ausmaß der systematischen Verstrickungen des Inlandsgeheimdienstes in die neonazistische Szene und das Umfeld des NSU-Trios gezeigt. Eine unendliche Geschichte von struktureller Unterstützung der rechten Szene, Behinderung der Aufklärung und Aktenvernichtung zur Vertuschung möglicher Erkenntnisse darüber, was der VS aus dem Umfeld des NSU-Trios und dessen Netzwerk wusste, befördert und billigend in Kauf genommen hat.
Als der Skandal um die V-Männer im Umfeld des NSU öffentlich wurde, haben viele die Auflösung des VS gefordert. Heute hört man nicht mehr viel davon, nachdem der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages über 60 Forderungen als Schlussfolgerungen der Ausschussarbeit vorgelegt hat. Die verfehlen aber den Kern des Skandals: das Versagen des Geheimdienstes durch das Führen bezahlter Spitzel, die selbst Neonazis sind, sowie die Unkontrollierbarkeit einer staatlichen Behörde, die über Jahrzehnte in der Tradition des kalten Krieges steht, frühzeitig mit Nazipersonal ausgestattet und durch dessen undemokratischen Geist geprägt wurde, das dem Verfassungsschutzverständnis der Zivilgesellschaft zuwiderlaufe, so Funke.
„Einzeltäterthese“ zieht nicht
Ziel müsse die Auflösung des Geheimdienstes in seiner bisherigen Form sein. Es wäre schön gewesen, wenn Richter Götzl im NSU-Prozess diese schlüssige Forderung gestellt hätte. Denn wie in vielen solchen Prozessen in der deutschen Geschichte stand mit der „Einzeltäterthese“ nicht das Netzwerk im Fokus, das in die Vorbereitung, Planung und Durchführung der Morde verstrickt sein muss, wie zahlreiche Untersuchungsausschüsse zum NSU auf Landes- und Bundesebene deutlich gemacht haben, in denen der Autor vielfach als Sachverständiger fungiert hatte.
Hajo Funkes Sachbuch ist auf 240 Seiten spannend, kenntnisreich und zugespitzt zu lesen. Er fasst die Erkenntnisse und Versäumnisse des NSU-Prozesses systematisch zusammen und benennt zahlreiche ungeklärte Fragen. Der Tod zahlreicher junger Zeugen, teilweise kurz vor Ankündigung ihrer fundierten Aussagen, versetzt den Leser fast in Krimi-Stimmung, wenn es nicht um die bittere Realität ginge. Das größte Mysterium im Prozess blieb, so Funke in einem aktuellen Monitor-Report, der Mordanschlag auf zwei Polizeibeamte, bei der die Polizistin Michel Kiesewetter starb. Die Polizistin hatte selbst verdeckt im Neonazi- und kriminellen Milieu recherchiert und wurde dabei verstörend unprofessionell geführt. In derselben Stadt führte sie verdeckte Ermittlungen durch und lief zugleich in Polizeiuniform herum, so Funke.
Dienstleister der Demokratie?
Das Magazin Monitor verwies nun auf weitere potentielle Kontakte des NSU-Trios in die salafistische Szene bei einer möglichen Waffenübergabe am Tatort. Funke macht bei seinen Recherchen auch russischsprachige Kriminelle aus und benennt Zeugen, die fünf bis zehn zum Teil blutverschmierte Personen auf der Flucht vom Tatort beobachtet haben wollen. Für die Bundesanwaltschaft sind dies bis heute keine ernst zu nehmenden Hinweise, um an der „Einzeltäterthese“ des Trios zu zweifeln.
Der NSU-Prozess hat zur Aufklärung des nazistischen Netzwerkes im Hintergrund kaum etwas beigetragen und sollte es wohl auch nicht. Auch die Rolle des Verfassungsschützers Temme als Zeuge und potentieller Tatverdächtiger kam im Schlussplädoyer von Richter Götze nicht mehr vor. Die Arbeit Temmes und vieler V-Leute im Umfeld des Trios wird von Hajo Funke auf der Basis umfangreicher Recherchen kenntnisreich beleuchtet. Sie machen deutlich, dass diese Personen von den Mordtaten und deren Umfeldbedingungen Kenntnis haben mussten. Der Autor verweist darauf, dass das ganze Dilemma des Staatsversagens im NSU-Prozess nur mit dem Wissen um die Geschichte des deutschen Rechtsterrorismus und der Rolle des Staates dabei verständlich wird. Deshalb ist der Rekurs des Autors mit einem Kapitel über den Verfassungsschutz als „Dienstleister der Demokratie“ – undemokratisch und ohne Kontrolle – ebenso schlüssig wie der Rückblick auf rechtsautoritäre Traditionen in der Bundesrepublik.
Öffentlichkeit ist gefragt
Funke endet in Thesenform mit vier klaren Forderungen für die demokratische Kontrolle von Sicherheitsbehörden: Die Aufklärungsblockade und der vorgeschobene Quellenschutz widerspreche dem Demokratiegebot. Das Bundesamt für Verfassungsschutz müsse unter demokratische Kontrolle gebracht werden. Der Schutz vor Grausamkeit, Verachtung und Rassismus dürfe nicht auf die Sicherheitsorgane reduziert werden, sondern sei Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Eine wirksame Gewalteindämmung verlaufe nur dort positiv, wo Politik und Zivilgesellschaft gegen die Akteure entfesselter Gewalt öffentlich vorgingen und Polizei und Justiz ihre Aufgaben effizient und zeitnah umsetzten.
Axel Holz (der Text erschien zuerst in „antifa“, dem Magazin der VVN-BdA)
Hajo Funke: Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz – Staatsaffäre NSU: das V-Mann-Desaster und was daraus gelernt werden muss. VSA-Verlag Hamburg, 2017; 240 Seiten, EUR 16.80.