„Der Chronist“
Wilhelm Waibel ist nicht erst seit der Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Singen ein bekannter und geschätzter Bürger. Was ihm vor über 50 Jahren zufällig in die Hände fiel, ließ ihn lange nicht mehr los: Eine Kiste mit rund 1500 Personalakten aus der NS-Zeit von Männern und Frauen aus ganz Europa, die während des Krieges in Singen als Zwangsarbeiter schuften mussten.
Die Suche nach diesen Menschen und die Auseinandersetzung mit den beteiligten Großfirmen beschäftigten Wilhelm Waibel ein Leben lang. Der Film „Der Chronist“ rekonstruiert die außergewöhnliche Geschichte der Versöhnung zwischen „ehemaligen Feinden“ und zeigt die Erinnerungen der letzten noch lebenden Zwangsarbeiter in Polen und Kobeljaki, Singens ukrainischer Partnerstadt.
Am Sonntag, 28. Oktober, wird um 17 Uhr der Dokumentarfilm „Der Chronist“ in der Stadthalle Singen, kleiner Saal, erstmalig der Öffentlichkeit gezeigt. Zur Premiere des 90minütigen Films wird der Regisseur und Filmemacher Marcus Welsch anwesend sein. Es ist eine Veranstaltung der Stadt Singen, zu der Oberbürgermeister Bernd Häusler herzlich einlädt. Der Eintritt ist frei.
MM/hpk
„Der Chronist“
Über den neuen Film von Marcus Welsch und seine Premiere
in der Stadthalle von Singen am Sonntag (28.10.18)
Singen war in meiner Wahrnehmung immer eine arbeitsame,
ökonomisch ernüchterte, prosaische Industriestadt, kein Kulturzentrum. Das riesige Interesse für den Film „Der Chronist“, der anhaltende Beifall, der dann in stehende Ovationen überging, hat mir gezeigt, dass ich da etwas nicht mitbekommen habe – vielleicht als ein Gefangener der notorischen Konstanzer Blasiertheit.
Die eminente Reaktion des Singener Publikums galt durchaus beidem, es ist nicht zu trennen: dem Mann und dem Film. Der Film zeigt den Mann. Und zwar noch rechtzeitig. Der alte Mann war da. Der Film zeigt ihn in seiner Unverwechselbarkeit: Sehr spröde, in Wort und Ausdruck verhalten bis zur Kargheit – auch wenn es um das Schweigen, Verdrängen, Vertuschen nach dem Krieg geht. Immer nur das Nötigste, keine Emphase, keine wortreich moralisierende, selbstgerechte Beschuldigung, sogar Verständnis.
Der gesamte Auftritt ohne Spur von Sentimentalität, die sonst wie eine Pest allgegenwärtig ist in unseren überweichen, matschigen Seelen. Wenn Willi Waibel etwa von dem verliebten jungen Polen spricht, den die Singener an einem Baum aufgehängt haben. Welchen sie hinterher absägen, damit sich keine Erinnerung an ihm festmachen kann. Oder von seinen „schwammigen Beinen“ bei einer frühen Konfrontation mit ehemaligen Zwangsarbeitern in der Ukraine, wird faßbar, wer er ist. Aber ganz ebenso auch, wenn er von dem Singener Vater erzählt, der seinen kleinen Sohn bei einem Bombenangriff auf die Stadt verliert.
Ich glaube, Letzteres ist entscheidend – für die Glaubwürdigkeit des Mannes und für die Kraft des Films. Die übergreifende, umfassende, ich möchte sagen: die w a h l l o s e Sensibilität für Menschen und ihren grenzenlosen Ruin, ihr grenzenloses Leid. Das hat nichts mit „Vergangenheitsbewältigung“ zu tun, wie sie uns allen und besonders den Jungen unter uns schon zu den Ohren herauskommt. Und viele auch direkt anwidert – als eine Art Ideologie. Das Pflichtgemäße daran, das Verstaatete.
Ernst Köhler