Mehr Rechte für Schnüffler?
Dürfen Detektive der Sozialversicherungen künftig von öffentlichem Grund aus in Wohnungen hinein filmen, fotografieren und/oder abhören? Um diese Streitfrage geht es bei der dritten Abstimmungsvorlage Ende November in der Schweiz. Die GegnerInnen der Vorlage sehen mit der Änderung des entsprechenden Gesetzes der Schnüffelei Tür und Tor geöffnet. Die BefürworterInnen bestreiten, dass so etwas möglich werde.
Genau genommen geht es um das „Referendum gegen die Änderung des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechtes (ATSG)“. Es wird also nur über diese Änderung abgestimmt, nicht über das gesamte, längst bestehende Gesetz. Dabei werden in diesem Gesetz Grundlagen geschaffen, um „Sozialdetektive“ einsetzen zu können. Diese sollen vermutetem Betrug auf die Schliche kommen, also Versicherte überführen, die Renten der Invalidenversicherung oder der Krankenversicherung beziehen, ohne erwerbsunfähig oder krank zu sein.
Die Ergänzung des Gesetzes wurde durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nötig, der befand, die Überwachung Versicherter bedürfe einer gesetzlichen Grundlage. Er verlangte damit, was rechtsstaatlich unumstritten ist: staatliches Handeln bedarf immer einer gesetzlichen Grundlage. Um diese Grundlage hatten sich aber bis dahin weder die staatliche Invalidenversicherung (IV) noch die kommunalen Sozialämter gekümmert.
Begonnen hatte das Schnüffeln auf Spuren vermuteter RentenbetrügerInnen, nachdem vor einigen Jahren die Schweizerische Volkspartei (SVP) das Schlagwort vom „Scheininvaliden“ aufgebracht hatte. Ursprünglich witterte die SVP hinter jedem, der eine IV-Rente bezog und vom Balkan stammte, einen Betrüger (Betrügerinnen kamen seltsamerweise in dieser Diskussion selten vor).
Nun bezweifelt niemand, dass es unter tausenden RentnerInnen auch BetrügerInnen gibt. Die Frage ist nur, wieviele es sind und ob sich der Aufwand lohnt, diesen per Detektiven nachspüren zu lassen. Tatsächlich haben solche Detektive jährlich durchschnittlich rund 150 Betrugsfälle aufgedeckt – das war jeder vierte ermittelte Betrug. Sie brachten der IV damit Einsparungen von 10 bis 12 Millionen. Franken jährlich – bei Gesamtausgaben für Renten von 4700 Mio. Franken.
Bei Parlament und Regierung war Anfang 2018 jedenfalls unstrittig, dass solche Detektiveinsätze weiterhin möglich sein sollten. Was bei den Beratungen herauskam, erregte dann den Ärger einer ursprünglich kleinen Gruppe von BürgerInnen, deren bekannteste Exponentin die Schriftstellerin (und „Spiegel“-Kolumnistin) Sibylle Berg ist. Um sie und den interneterfahrenen Campaigner Daniel Graf formierte sich eine kleine Gruppe, die es tatsächlich schaffte, die benötigten 50 000 Unterschriften zusammen zu bringen, die für eine Abstimmung über ein Gesetz (Referendum) nötig sind.
Das Referendum richtet sich dabei nicht gegen die Sozialdetektive an sich, sondern es geht um die Rechte, die ihnen eingeräumt werden sollen. Laut Gesetz sollen sie verdächtigte Versicherte auch verdeckt observieren dürfen, wenn sich diese „an einem Ort befindet, der von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar ist“. Dabei darf auch gefilmt, fotografiert und/oder die Stimme aufgezeichnet werden. Genehmigen können das die Versicherungen – neben der IV gilt das auch für Krankenversicherungen – selbst. Erst wenn GPS-Tracker eingesetzt werden sollen, müssen sie eine richterliche Genehmigung einholen.
Gestritten wird zwischen Befürworten und Gegner vor allem darum, ob mit der Umschreibung „von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar“ auch die Wohnräume Überwachter gemeint sind – falls z.B. am Wohn- oder Schlafzimmerfenster weder Vorhänge noch Jalousien die Sicht blockieren. Denn wenn der Detektiv beim Fotografieren z.B. auf dem Trottoir stünde, erfülle er die Vorschrift durchaus, so die Kritiker. Nein, das dürfe er nicht, sagen die Befürworter – darunter auch der zuständige Departementschef (Minister) Alain Berset: Das Bundesgericht habe bisher immer so geurteilt, dass zwar auf frei einsehbare Balkone, nicht aber in Schlafzimmer hinein überwacht werden dürfe. Er sehe keinen Grund, weshalb das Bundesgericht seine Rechtsprechung ändern solle, so Berset gegenüber den „St. Galler Tagblatt“. Vielleicht, weil es künftig eine andere gesetzliche Grundlage hätte, könnte man dem entgegenhalten.
Nachdem die Gegner ursprünglich ohne jede Unterstützung einer Partei gestartet waren, wird ihr „Nein“ zu der Gesetzesänderung inzwischen von der Sozialdemokratischen Partei (SPS) und linken Gewerkschaften aus der Westschweiz unterstützt. Die Chancen der Gegner dürften trotzdem gering sein. Die „Scheininvaliden“-Debatte hat in der Schweiz hinsichtlich Berufsunfähiger das erreicht, was die Hartz4-Debatte in Deutschland für Langzeitarbeitslose geschafft hat: sie unter den Generalverdacht der Faulheit und des Sozialbetrugs zu stellen. Dagegen wiegt der Verdacht gering, das Recht auf Privatsphäre zu missachten.
Lieselotte Schiesser