Sterben kann Freude schenken
Im November steht Bach an, immer wieder Bach, und das ist gut so. Die traditionsreichen 30. Konstanzer Bach-Tage vom 19. bis 25. November stellen Johann Sebastian Bach in den Kontext seiner Zeitgenossen wie Dieterich Buxtehude und Georg Phillip. Wer also endlich einmal Händels „Messias“ („Haaa-leluja!“) live hören oder sich in bachsche Orgelmusik versenken will, hat ausgiebig Gelegenheit dazu. So erbaulich aber Bach auch komponierte, wenn nicht genug gestorben wurde, machte ihn das unwirsch.
Natürlich ist Johann Sebastian Bach (1685–1750) der allseits anerkannte Übervater der abendländischen Musikgeschichte, aber auch er ist letztlich nur ein (sehr großer) Wicht, der so weit zu sehen und zu hören ist, weil er auf den Schultern von Riesen steht. Einer dieser Riesen war Dieterich Buxtehude (1637–1707), der weithin berühmte und allgemein bewunderte Organist der Lübecker Marienkirche.
Gut zu Fuß
Die Bedeutung Buxtehudes lässt sich unschwer daran ermessen, dass der junge Georg Friedrich Händel 1703 in Lübeck bei ihm vorstellig wurde. Auch der zwanzigjährige Bach machte sich 1705 auf die Socken und lief die 400 Kilometer aus dem thüringischen Arnstadt nach Lübeck vermutlich weitgehend zu Fuß, um Buxtehude kennenzulernen und zu „behorchen“. Dieser Besuch scheint äußerst anregend gewesen zu sein, denn Bach überzog den einen Monat Urlaub, den er hatte, ganz erheblich und blieb drei bis vier Monate bei Buxtehude, was nach seiner Rückkehr zu einigem Stunk mit seinem Arbeitgeber führte. (Dass Bach davor zurückgeschreckt sei, die Nachfolge Buxtehudes anzutreten, weil er dafür dessen wenig attraktive Tochter hätte heiraten müssen – ein durchaus gängiges Geschäft, auch Buxtehude selbst hatte die Tochter seines Vorgängers geheiratet – wird hartnäckig von der Musikschriftstellerei kolportiert.)
Dass Bach ausgerechnet in der schlechten Jahreszeit wanderte, hatte vermutlich einen ganz praktischen Grund: Die weithin berühmten „Abendmusiken“ Buxtehudes fanden jeweils vor Weihnachten statt. Belegt ist wohl, dass Bach am 2. und 3. Dezember 1705 in Lübeck Oratorienmusik von Buxtehude hörte(2), eine Art Kirchenoper also, in der mit dramatischem Gespür und einigem musikalischen Aufwand geistliche Inhalte vertont wurden. Wer an die späteren gewaltigen Passionen aus Bachs Feder denkt, wird sofort ein Band zwischen Buxtehude und Bach erkennen. Der war vielleicht doch eher ein Riese auf den Schultern eines anderen Riesen.
Das Jüngste Gericht
Es ist daher durchaus folgerichtig, dass die Konstanzer Bach-Tage in der Lutherkirche, die nach der Pensionierung ihres Gründers Claus Gunter Biegert erstmals vom neuen Kantor Michael Stadtherr verantwortet werden, am nächsten Montag mit dem Oratorium „Das Jüngste Gericht“ (ca. 1685) von Buxtehude beginnen. Dessen Orgelmusik ist zwar inzwischen fest im Repertoire verankert, aber andere Musik aus seiner Feder wird nur selten aufgeführt. Wer Buxtehudes ergreifendes Werk „Membra Jesu Nostri“ kennt, in dem er die Körperteile Jesu musikalisch verherrlicht (einige zumindest, andere hingegen nicht), wird schon gespannt sein, wie sich das „Jüngste Gericht“ dagegen ausnimmt. Immerhin kommt es darin zum pubikumswirksamen Auftritt von Todsünden wie Geiz, Hoffart und Geilheit, und es ist auch sonst einiges geboten.
Man kannte sich
Etliche der großen Komponisten waren untereinander befreundet. So wie Bach als Jünger zu Buxtehude pilgerte, so war er mit Georg Philipp Telemann (1681–1767) befreundet, der der Taufpate seines später berühmtesten Sohnes Carl Philipp Emanuel Bach wurde. Man tauschte sich aus, schrieb voneinander ab (der Notendruck war eine mühsame Angelegenheit und noch nicht richtig in Schwung gekommen), und Händel, der in London Karriere machte, schickte seinem botanisch begeisterten Freund Telemann gelegentlich Blumenzwiebeln, was auf ein funktionierendes Postwesen hindeutet.
Zwei Zeitgenossen allerdings sind sich in ihrem ganzen Leben nie begegnet: Bach und Händel, dessen effektvoller „Messiah“ die Bach-Tage beschließen wird und zeigt, wie sehr sich die Musik in den rund 60 Jahren seit Buxtehudes „Jüngstem Gericht“ entwickelt hatte. Nach 1933 brachte dieses Oratorium Händels übrigens die Nazis, die Händel gern zu einem deutsch-arischen Großmeister verklärt hätten, ins Schleudern, denn damit „hat sich das Völkermischmasch in Händels Gesamtwerk um ein neues, diesmal sogar rassisch fremdes Volk vermehrt,“ wie der Musikwissenschaftler Friedrich Herzfeld 1934 konstatierte.(3) Er fügte aber, um Händel irgendwie zu retten, einen echten Hirnfurz hinzu: „Das Problem des Volkes ist germanisch. Durch alle Wanderungen und Wandlungen hindurch hat Händel in seiner Gestaltung die Urheimat wiedergefunden, als echter Künder nordischen Gepräges.“ So viel Arisierungsdialektik lässt selbst den eingefleischtesten AfDler vor Neid erblassen.
Sorgen über Sorgen
All diese Großmeister von Händel bis Telemann hatten allerdings auch hier und da ihre ganz privaten Sorgen, und die waren nicht zuletzt finanzieller Art, obwohl sie allesamt nicht schlecht verdienten. So klagte Bach 1730 in einem Brief an einen Jugendfreund: „Meine itzige station belaufet sich auf 700 rthl., und wenn es etwas mehrere, als ordinairement, Leichen gibt, so steigen auch nach proportion die accidentia; ist aber eine gesunde Lufft, so fallen hingegen auch solche, wie denn voriges Jahr an ordinairen Leichen accidentien über 100 rthl. Einbuße gehabt.“(1)
Was meint der Übervater der abendländischen Musik damit? Ganz einfach: Er verdiente um die 700 Reichstaler pro Jahr, die Fallhonorare für die einzeln zu bezahlende Musik bei Beerdigungen eingeschlossen (fachsprachlich übrigens „jemanden unterorgeln“ genannt). Letzteres bedeutete: Viele Leichen, hohe Einnahmen, und darum sah Bach einem Jahr mit „gesunder Luft“ – also wenigen Todesfällen – mit gemischten Gefühlen entgegen, denn dann sanken seine Einnahmen deutlich. Der Tod kann also durchaus auch Spaß machen – so lange es die anderen erwischt.
Alle Konzerte in der Lutherkirche
Montag, 19.11., 20.00 Uhr, Buxtehude, „Das Jüngste Gericht“, 15 Euro, Abendkasse.
Mittwoch, 21.11., 20.00 Uhr, Kammermusikkonzert (Bach, Telemann, Zelenka), 20 Euro, Abendkasse.
Freitag, 23.11., 20.00 Uhr, Orgelkonzert (Böhm, Buxtehude, Reincken, Bach), 10 Euro, Abendkasse.
Samstag, 24.11., 17.00 Uhr, Das kleine Konzert (Zwei Cello-Suiten von Bach), Eintritt frei.
Sonntag, 25.11., 17.00 Uhr, Händel „The Messiah“, 12-42 Euro, Vorverkauf bei BuchKultur Opitz und unter www.reservix.de.
www.kultur-forum-lutherkirche.de
Harald Borges (Bild: Ausschnitt aus dem Plakat der Bach-Tage)
Anmerkungen
(1) Peter Schleuning, Der Bürger erhebt sich. Geschichte der deutschen Musik im 18. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 2000, S. 67.
(2) Christoph Wolff, Johann Sebastian Bach, Frankfurt/Main 2009, S. 566.
(3) Georg Herzfeld, Georg Friedrich Händel, Die Musik XXVI. (1934), S. 500-501.