Das schwere Erbe der Väter

Der Konstanzer Autor Hermann Kinder publiziert und kommentiert das „Familienalbum“ seines Vaters. Sein Schriftstellerkollege Jochen Kelter hat es gelesen und seemoz zur Verfügung gestellt. Pikantes am Rande: Angeboten hat Kelter seine Buchbesprechung auch dem Südkurier, für den er lange Jahre viel gelesene Texte verfasst hat. Aber aus uns nicht näher bekannten Gründen scheint die Tageszeitung vor Ort zukünftig auf Kelters Mitarbeit verzichten zu wollen.

Zunächst einmal musste Hermann Kinder das Textkonvolut, das Tagebuch seines Vaters von 1942 bis 1949, das seit dem Tod der Mutter bei ihm lagerte, in lateinische Schrift transkribieren. Denn die Sütterlinschrift, in dem es verfasst war, wie die vor dem 1. Weltkrieg Geborenen sie schrieben, ist uns Nachgeborenen kaum verständlich – keine kreative, eine eher mühevolle Leistung. Kinder kommentiert sodann kenntnisreich den Inhalt, geht also nicht wie andere Autoren auf fiktionale Vatersuche.

Sein Vater Ernst stammte mütterlicher- wie väterlicherseits aus einer Lehrer-und Pfarrertradition, er war Theologe, nach dem Krieg Theologie-Professor in Münster. Während des Nationalsozialismus stand er der „Bekennenden Kirche“ nahe, die den Nazis und den (reformierten) „Deutschen Christen“ der Reichskirche gegenüber kritisch eingestellt war. Das behinderte die Laufbahn von Ernst Kinder. Aber sein Sohn Hermann legt dar, dass die Rolle der Bekennenden Kirche mit dem „Märtyrer“ Bonhoeffer (der im KZ umkam) oder dem Theologen Niemöller im Nachkriegsdeutschland als Exkulpationsstrategie benutzt wurde.

Die Nähe zu ihr schloss eine zeitweilige Mitgliedschaft in der SA ebenso wenig aus wie eine nationalistische bis nationalsozialistische Gesinnung. Zu Beginn des 2. Weltkriegs wird der Vater Soldat, macht den Polen-, den Frankreich-, den Feldzug auf dem Balkan und jenen verheerenden in Russland mit. Dabei dient er sich vom einfachen Soldaten bis zum Hauptmann und Kompaniechef hoch, was auf Gesinnung, Tatkraft und eine intellektuelle (und ideologische?) Überlegenheit gegenüber anderen schließen lässt.

1942 beginnt er seine Aufzeichnungen, die Kinder treffend als „familiäre Überlebens – Festschrift. Das Manifest einer Kohorte“ bezeichnet. Der Zusammenhalt der Familie, einer „Fluchtburg“, steht über allem, von politischen Differenzen, die es sehr wohl gab, ist nie die Rede. Der auktoriale Erzähler blendet auch aus, was er auf den Feldzügen, die er mitgemacht, gesehen oder erlebt haben dürfte. Vom „Schrecken“ des Kriegs ist die Rede, am Ende von der „Katastrophe“, aber auch nie von eigenem Leiden. Kinders Vater erweist sich als selbstloser Stoiker, eine „Tugend“, die er mit vielen Altersgenossen teilt.

Kinder zeigt auch, dass direkte Nachkommen und selbst Enkel noch in den Traumata dieser Kriegsgeneration gefangen sind und wenn auch nur ex negativo. „Erwachsen werdend, bestückt mit kritischem historischen Wissen, wurden uns die Eltern fremd. Wir machten sie fremd … Wir verhafteten sie ins Gefängnis von Krieg und Faschismus.“

Mit den Jahren wurde der Blick auf die Eltern milder. Das hing mit ihrem fortschreitenden Alter, aber auch mit dem der Nachgeborenen zusammen. Und mit der veränderten politischen Lage, der deutschen Wiedervereinigung etwa, nicht zuletzt mit einer neuen Historiographie, die „die Leiden der Zivilbevölkerung“ , die Bombardierung der Städte durch die Alliierten, Flucht und Vertreibung thematisiert. Daraus ergab sich, so Kinder, ein differenzierterer Blick auch auf die eigenen Eltern.

Zugleich bleibt, zumindest geht es dem Rezensenten so, eine tiefe Kluft nicht nur zwischen der Sütterlin- und unserer lateinischen Schrift, sondern auch zwischen den Vätern (und wohl auch Müttern) und uns, den Töchtern und Söhnen. Dieser Vater Ernst Kinder bleibt mir, nicht als reformierter Theologe, sondern als Mensch völlig fremd. Die zur Fluchtburg stilisierte (und wohl zensurierte) Familie bleibt mir ebenso unbegreiflich wie der empathielose Blick auf die Gräuel des Kriegs, der alles um ihn her und sogar sich selbst ausblendet. Und auch nach dem Ende, der Niederlage des Faschismus, ist von Einsicht keine Spur. In den Notizen aus der Gefangenschaft notiert Ernst Kinder: „… dass all das, was man uns an sogen. „Vergeltung“ angetan hat, längst dasjenige weit überschreitet, was wir Böses getan haben … Es müsste einmal ein „Nürnberger Prozess“ darüber stattfinden, was Deutschland … vor dem Krieg, im Krieg u. vor allem nach dem Krieg angetan wurde – Entsetzliches käme zutage!“ Hermann Kinders Buch hingegen ist ein wichtiger Beitrag zur Bewusstseinsgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Jochen Kelter (Bild: Verlag Klöpfer & Meyer, Buchcover)

Hermann Kinder: „Die Herzen hoch und hoch den Mut“
Das Familienalbum meines lutherischen Vaters 1942 – 1949.
Verlag Klöpfer & Meyer, 2018, 173 S., 22 Euro