Was zum Teufel war in diesem Eierlikör?

Tim Kramer, ehemaliger Schauspieldirektor am Theater St. Gallen, inszeniert in Konstanz das Stück „Ewig Jung“. Fünf Schauspieler des Stadttheaters zeigen, wie es um sie in fünfzig Jahren bestellt sein könnte: Rock’n’Roll im Altersheim. Was klingt wie eine Showeinlage auf einem bunten Abend, ist dermaßen auf die Spitze getrieben, dass es schon wieder gut ist. Selten so gelacht im Theater.

Im Zuschauerraum drängen sich die Theatergäste durch die Sitzreihen, auf der Suche nach ihrem Platz, neben mich setzt sich ein Ehepaar mittleren Alters, dezent elegant gekleidet. Unbeeindruckt von dem Geraschel und Geraune beginnt Schwester Lydia (Lydia Roscher) auf der Bühne mit ihren Vorkehrungen. Sie enthüllt eine wild zusammengewürfelte Sitzgruppe, bestehend aus Sofas und Sesseln aus den letzten fünf Jahrzehnten, wedelt Staub von den in Gold gerahmten Intendantenportraits und befreit auch die Band, die wie das Inventar unter weißen Tüchern eingehüllt ist. Die Zuschauer tuscheln: Wer ist das jetzt auf diesen Bildern? Die Intendanten? Und wer ist das mit der gelben Brille? Ach, ja, die Neue! Wann fängt sie nochmal an und wie hieß sie noch gleich? „Karin Becker, sie beginnt 2020“, so informiert mein Sitznachbar leicht genervt und bittet im gleichen Atemzug um Ruhe. Die Vorstellung beginnt.

Schwester Lydia begleitet ihre Patienten auf die Bühne: Anne Simmering, Katrin Huke, André Rohde, Thomas Fritz Jung und Ingo Biermann. Sie spielen sich selbst in 50 Jahren im Altersheim. Klingt nach einer Showeinlage für einen bunten Abend einer mittelständischen Betriebsfeier? Das denkt sich vermutlich auch mein Sitznachbar: „Ich weiß nicht, ob ich das zwei Stunden durchhalte“, flüstert er seiner Frau zu, doch da stimmt die Band schon das erste Lied an und das ist „I love Rock’n’Roll“. Die dazugehörige Showeinlage erinnert an tanzende Youtube-Omas und ist tatsächlich witzig.

Die Schauspieler inszenieren sich selbst in verschiedenen Facetten des Alters. Frau Simmering ist die schwarze Witwe, in Pelz und mit Alterstourette. „Arschloch“, blökt sie Herrn Rohde entgegen, der im Königsmantel mit Plüschhausschuhen auf die Bühne schlapft und loriothafte Halbsätze von sich gibt. Frau Huke ist adrett im Kostümchen, mit lila Locken und Papageien-Makeup. Sie ist die Gattin von Herrn Biermann, ebenfalls elegant, im Anzug, nur leider hinkt das Bein. Und auch Herr Jung ist nicht mehr das, was sein Name verspricht, sondern ein Alt-Hippie, der aussieht, als hätte er noch ein wenig Ei vom Frühstück im Bart (Ausstattung: Gernot Sommerfeld).

Born to be wild, Forever young, Buona sera

Immer wenn Schwester Lydia die Bühne verlässt, ist Schluss mit infantilen Klatschliedchen. Dann wird gerockt. Musikalisch geht es dabei von Peter Maffay über Santana kreuz und quer durch die Liste bekanntester Evergreens. Dem Quintett gelingt es dabei, den Texten der Lieder einen ganz neuen Sinn zuzuweisen, was unfassbar komisch ist. „Wenn ich geh, dann geht nur ein Teil von mir“ bekommt eine ganz neue Bedeutung, wenn Herr Biermann versucht, sein gelähmtes Bein im Takt zu schwingen. Und die Zeile „Life in plastic, it’s fantastic“ aus Barbie-Girl erhält ebenfalls eine Wende, wenn sich Frau Simmering die Prothese dazu festschraubt. Im Minutentakt gibt es immer wieder neue Gags, die teilweise richtig blöd sind, aber eben so blöde, dass es dann doch wieder gut ist.

Während ich mich frage, wie man auf so einen bunten Blumenstrauß an Lachnummern kommen kann, wird auf der Bühne Eierlikör serviert und prompt fällt mir einer meiner Lieblingsfilme ein: „Montana Sacra – Der Heilige Berg“ von Alejandro Jodorowsky aus dem Jahr 1973. Der chilenische Regisseur setzte sich und seine Schauspieler vor Drehbeginn mehrere Wochen lang unter Drogen, was als Ideengrundlage des Films genutzt wurde. Nach LSD sieht es in „Ewig Jung“ nicht aus. Das Stück ist die Weiterentwicklung von „Thalia Vista Social Club“, das aus der Feder des schwedisch-Schweizerischen Theaterautors Erik Gedeon stammt. Aber irgendwas ist in diesem Eierlikör. Und das will ich auch!

Loriot, Tom und Jerry und Shakespeare

Spätestens wenn sich die Darstellenden in einer Tom-und-Jerry-Szene jagen oder zu Zombies mutieren, bleibt kein Auge mehr trocken. Und jeder der Darstellenden erhält im Laufe des Abends seinen oder ihren persönlichen Augenblick. Hier erleben wir die Schauspieler neu: eine Frau Huke, die bezauberndste Möwe von allen, eine raue und wilde Frau Simmering, einen strippenden Herrn Biermann (wow!) und einen Herrn Jung, der wieder und wieder versucht, ein bisschen Peace zu verbreiten. Sie demonstrieren Stimmgewalt – nicht zuletzt Schwester Lydia mit ihrer opernhaften Todesarie – und dazu zeigen sie Einfühlungsvermögen.

So sehr das Thema „Altern“ hier humoristisch verzerrt wird, es bleibt doch klar, was es alles bedeuten kann: Einsamkeit, Vergesslichkeit, Zorn, Komik, Verrücktheit, Rührung, Liebe, Ernsthaftigkeit, Verzweiflung, Gleichgültigkeit. Als Zuschauer wird man zwischen den vielen Lachern ständig wieder darauf gestoßen. Und wer sich über fehlende Theaterdialoge beschweren will, dem wird geholfen: In einem wilden Ritt durch die Dramengeschichte wird auch in diesem Bereich demonstriert, was möglich ist. Hamlet mal ganz anders … Ein Kompliment an Regisseur Tim Kramer, dem der Drahtseilakt zwischen Tragik und Komik so gekonnt gelingt, dass beide Teile ihren angemessenen Raum finden.

Auch musikalisch gibt es einige Überraschungen. Unter der Leitung von Tobias Schwencke zeigt die Band, bestehend aus Wolfgang Kehle, Stefan Gansewig, Frank Denzinger, Rudolf Hartmann und Arpi Ketterl, ihr Können: Scarborough Fair als Reggea-Version zum Beispiel. Aber auch in allen anderen Genres sind die Musiker des Theaters bestens aufgestellt und erschweren, wie schon in vergangenen Spielzeiten in den Johnny Cash- und Neil Young-Stücken, das Stillsitzen.

Am Ende rekapituliert Herr Rohde noch einmal die Message des Stücks in einem Plädoyer an das Leben und entlässt das Publikum beschwingt in die Nacht. Ach ja, und mein Sitznachbar? Der hat 19 Mal laut gelacht. Ich habe Strichliste geführt. Beim Schlusslied hat er mitgesummt und im Anschluss gab es sicherlich noch ein Gläschen an der Bar. Das empfehle ich jedem Theatergänger bereits vorab, damit es sich gleich ab Beginn auf der Eierlikörwelle mitschweben lässt! Zum Beispiel am Silvesterabend?

Veronika Fischer (Foto: Bjørn Jansen, Theater Konstanz)