Vom Sozialpass bis zum BGE
Alle Jahre wieder, da kommt die Statistik über die Sozialpass-InhaberInnen der Stadt Konstanz auf den Tisch. Dieser Tage war es wieder so weit. Aus dem Sozial- und Jugendamt wurden die neuesten Zahlen für 2017 bekanntgegeben. Unser Autor hat sie sich genau angeschaut und denkt dabei auch über den Tellerrand hinaus.
Auf einem hohen Niveau waren es geringfügig weniger Menschen als noch im Jahr zuvor, die sich bei der Stadt um einen Sozialpass bemüht hatten. Mit dem Ausweis, der für zahlreiche Vergünstigungen sorgt, unter anderem bei der Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel, bei Veranstaltungen der Volkshochschule, an der Musikschule, bei Zuschüssen für eventuelle Vereinsbeiträge oder zum Zugang zu den Schwimmbädern, offenbarten 2017 insgesamt 2.960 Personen, dass sie sozial bedürftig sind. Denn der Sozialpass wird nur an die vergeben, die ihre Position im gesellschaftlichen System nachweisen können: Bezieher von Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe oder Wohngeld, aber auch Asylbewerber, unbegleitete minderjährige Ausländer und junge Erwachsene, deren Lebensunterhalt vom Jugendamt übernommen wird, gehören zum Kreis der Berechtigten.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich bin dankbar für den Sozialpass, denn er gewährt einem nicht unbeträchtlichen Teil der Wohnbevölkerung in Konstanz eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben. Doch ich schließe mich Ausführungen des Sozial- und Jugendamtes an, das feststellt: „Der Sozialpass kann grundsätzliche Probleme des sozialen Sicherungssystems und finanzielle Belastungen durch den angespannten Wohnungsmarkt nicht lösen […]“. Ja, das soziale Sicherungssystem. Dieser Tage diskutieren wir wieder vermehrt darüber. Da will die SPD eine Rolle rückwärts bei den „Hartz IV“-Regelungen einschlagen. Und die Grünen könnten sich sogar eine offenkundig weitgehend sanktionsfreie „Garantiesicherung“ vorstellen, die letztlich dem sogenannten „Bedingungslosen Grundeinkommen“ (BGE) ziemlich nahe käme.
„Arbeit muss sich wieder lohnen“
Die Wirtschaft und die Arbeitgeber laufen Sturm gegen diese Vorschläge, die zum jetzigen Zeitpunkt in ihrer Realisierung sowieso in weiter Ferne liegen. Solange es in Deutschland an einer linken Mehrheit fehlt, sind Änderungen an der „Agenda 2010“ oder gar ein BGE nur Prestige-Objekte, mit denen sich vor allem die Sozialdemokratie in der Tiefe der Umfragewerte neue Zustimmung erhofft. Gleichzeitig fragt man sich aber ohnehin: Wäre solch ein BGE tatsächlich gerechter als das soziale Sicherungswesen, das momentan in Deutschland herrscht? Manche Wissenschaftler haben arge Zweifel daran und argumentieren mit der Gießkanne, mit der eine Mindestsicherung ausgeschüttet würde, die gar nicht jeder braucht – und die denen nicht gerecht würde, die einen weitaus höheren Förderbedarf hätten als ein festgesetztes Maß an Lebensunterstützung, von dem man sich Abweichungen nur schwer vorstellen kann. Denn es wäre ja gerade die Idee einer Leistungsbündelung, die zusätzliche Maßnahmen obsolet machen würde. Tatsächlich würde das Sozialwesen deutlich entbürokratisiert – und diejenigen, die auf Hilfe angewiesen sind, würden entstigmatisiert. Denn sie müssten sich nicht nur in Konstanz kein bisschen länger mit dem Sozialpass öffentlich ausweisen, wenn es um den Anspruch auf Vergünstigungen geht.
„Arbeit muss sich wieder lohnen“, das ist der Tenor der FDP, die dem BGE so gar nichts Positives abgewinnen kann. Die Partei, die auf Chancen-, nicht aber auf Ergebnisgerechtigkeit setzt, hängt noch immer dem Denkmuster nach, dass der Mensch allein etwas wert zu sein scheint, wenn er als Wirtschaftsfaktor rentabel ist. Diejenigen, die morgens zur Frühschicht aufstehen würden, sie müssten mehr in der Tasche haben als die, die zur gleichen Zeit im Bett liegen bleiben. So formulierte es aktuell der liberale Abgeordnete Michael Theurer, der damit deutlich machte: Wir sind zum Arbeiten geboren – und die, die sich nicht daran halten, müssten eben mit weniger auskommen. Grundsätzlich will ich an dieser Gleichung nicht rütteln. Doch sie hilft uns wenig in der Argumentation für oder gegen ein BGE weiter. Denn ein Bedingungsloses Grundeinkommen wäre schlichtweg der Sockel, auf den jeder aufbauen könnte und müsste, der mehr haben kann – und will. Ja, wer sich mit einer Grundsicherung zufrieden gibt, könnte nach der Einführung des BGE morgens im Bett bleiben, denn er hätte keine Sanktionen zu befürchten. Denn die Mindestsicherung stünde ihm zu. Der Würde des Menschen nach. Nicht erst die Leistung würde jemanden zu einem Anspruchsberechtigten auf eine festgelegte Summe im Monat machen. Sondern es wäre allein die Existenz eines Jeden, die ihm – auf sicherlich niedriger Basis – das Dasein sichern würde.
„Es ist genug für alle da“
Doch mein Menschenbild ist offenbar ein anderes als das der FDP: Ich gehe nicht davon aus, dass eine Vielzahl derjenigen, die arbeiten können, nicht arbeiten würden. Denn Arbeit ist in erster Linie etwas, was uns Sinn geben sollte. Es ist auch eine Ablenkung, eine Ausgestaltung unseres Alltags. Wenn wir Arbeit so gestalten, dass möglichst jeder von uns (wieder) Lust daran findet, dann bestünde auch nicht die Gefahr, dass eine Mehrheit der Bevölkerung ein Leben in der Hängematte dem Arbeitsleben vorziehen würde. In Zeiten, in denen wir immer öfter über Digitalisierung sprechen, in denen die Technik und die Wissenschaft bereits davon ausgehen, dass ein steigender Anteil von Arbeit durch Maschinen und Computer ersetzt werden könnte, da besteht Hoffnung darauf, dass wir Arbeit für alle noch attraktiver gestalten können als bisher. Anstatt sich gegen ein Bedingungsloses Grundeinkommen zu wehren, stünde es auch den Liberalen gut zu Gesicht, wenn sie sich für eine Arbeit einsetzen würden, die jedem Einzelnen in seiner Menschlichkeit gerecht wird. Leider ist es das alleinige Besinnen auf den Erfolg und die Rentabilität, die manche Ideologie in ihren visionären Vorstellungen recht eingeschränkt zurücklässt.
Und wie sollten wir das BGE finanzieren? Unterschiedliche Modellversuche laufen. Und es scheint nur in der Wahrnehmung der Gegner eine große Angst zu sein, dass ein Bedingungsloses Grundeinkommen nicht zu stemmen wäre. Denn das, was verteilt würde, müsste ja auch irgendwo erwirtschaftet werden, so deren Argument. Wenn ich darauf blicke, wo heute unser Wohlstand akquiriert wird, lande ich nur selten bei unserer Hände Arbeit. Da lassen wir das Geld wirtschaften, da verdienen die, die (manches Mal wohl eher nur angeblich) eine große Verantwortung tragen, Millionen und Milliarden, die letztlich niemand von ihnen je wird verbrauchen können. Es dürfte genug für alle da sein, wenn wir die Verteilung des Wohlstandes gerechter angehen würden. Denn nicht jeder, der Unsummen verdient, hat sie schlussendlich auch verdient. Viel eher muss die Frage sein, ob auf unserer Welt nicht jeder von dem, was uns allen gemeinsam zur Verfügung steht, einen so kleinen Teil abbekommen darf, dass er in seiner Existenz gesichert scheint. Tatsächlich wäre ein BGE ein völlig neues Denkkonzept, das unseren Gerechtigkeitsbegriff auf eine Prüfung stellen würde – nach meinem Dafürhalten: mit einem positiven Ergebnis.
Abschied vom alleinigen Leistungsdenken
Und wie ginge es denen, die wirklich mehr bräuchten, als ihnen nach dem BGE zustünde? Auch heute sind es kranke, sozial schwache Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen einen Mehrbedarf ausweisen, um für das tägliche Leben gerüstet zu sein. Und ja, man muss selbst bei einer standardisierten Leistung wie dem Grundeinkommen darauf Rücksicht nehmen, dass die unterschiedlichen Biografien verschiedene Bedürfnisse erzeugen. Deswegen würden wahrscheinlich auch Sozialämter nicht arbeitslos, wenn das BGE erst einmal eingeführt wäre. Denn das Bedürftigkeitsprinzip muss in einem Sozialstaat auch dann gelten, wenn wir die unzähligen Einzelleistungen zusammengefasst und unter einem gemeinsamen Anspruch für alle kombiniert hätten. Wenn das BGE nicht ausreicht, obwohl damit eine Mindestsicherung abgedeckt ist, dann brauchen wir auch weiterhin die individuelle Prüfung derer, die aus ihren besonderen Lebensumständen heraus einen Mehranspruch proklamieren. Doch nebenbei: Was ist eigentlich mit denen, die gar kein BGE brauchen, weil sie durch Arbeit und Wohlstand bereits so viel vom Kuchen bekommen haben, dass es im Überfluss ausreicht? Fair wäre es da nur, wenn sie mit ihrer Steuererklärung das BGE wieder an den Staat zurückzahlen würden, damit die profitieren könnten, die tatsächlich Bedarf haben.
Zweifelsfrei: Im Falle eines BGE müssten wir wegkommen von einem alleinigen Leistungsdenken. Es wird stets Menschen geben, die in der Inbrunst ihrer Gesundheit und künstlerischen Schaffenskraft Unmengen an Produktivem erwirtschaften können. Nicht weniger wertvoll sind aber die Menschen, denen es Natur und Evolution schwerer gemacht haben, mit Arbeit Ergebnisse zu vollbringen. Wir sind allein aufgrund unseres Daseins im Hier und Jetzt dazu berechtigt, mit einem auskömmlichen Unterhalt leben zu dürfen. Die Bezugnahme auf Artikel 1 des Grundgesetzes, sie macht das BGE zu einem Konzept, das zumindest moralisch viele andere Denkweisen schlägt. Und dass unter einem BGE das Konstanzer Sozial- und Jugendamt eine gewisse Entlastung erhielte, es wäre nur einer der wenigen angenehmen Nebeneffekte, die eine perspektivisch lang gedachte Reform für unser aller Gemeinwohl nehmen könnte. Für den Moment bleibt allerdings „nur“ der Dank an Gemeinderat und die Stadtverwaltung, die mit dem Sozialpass eine Institution geschaffen haben, die ein wenig vom großen Leiden lindert – und wenigstens mancherorts das Leben ein bisschen erträglicher werden lässt.
Dennis Riehle