Ein vergessenes Volk in Bildern

Noch bis heute Abend (Freitag, 21.12., 18 Uhr) ist im Bürgersaal in Konstanz eine Ausstellung zu besichtigen, die das Leben und Kämpfen der Menschen in Rojava dokumentiert, jenem Landstrich im Norden Syriens, in dem KurdInnen seit einigen Jahren unter widrigsten Umständen basisdemokratische, egalitäre Selbstverwaltungsprojekte aufbauen. Die mit revolutionärem Eifer und geduldiger Beharrlichkeit gleichermaßen erkämpften humanitären Errungenschaften sind in ständiger Gefahr, den Machtkämpfen der Großmächte und regionaler Potentaten zum Opfer zu fallen. Aktuell hat der türkische Diktator Erdoğan neuerlich zum Sturm auf die Rojava-Kantone geblasen. Eindrücke von einer Bilderschau, die mehr will als nur berühren. Sie fordert zur Solidarisierung mit Menschen auf, die in Freiheit und Selbstbestimmung leben wollen.

Ich wurde vom Mut und von der Hoffnung der Menschen angesteckt als ich vor Ort war. Als ich zurück nach Europa kam, fragte ich mich, wie es weitergehen soll.“ (Maja Hess, medico international Schweiz)

Eine Frau, die vor einer Feuerstelle sitzt und gelassen eine Zigarette raucht, während es im Topf köchelt. Ein einzelner Mann, der ein Tuch in den Wind hält, im Hintergrund der weite Himmel: Einige Menschen vermitteln dem Betrachter ein Gefühl von Ruhe und Friedlichkeit. Obwohl es erst einige wenige Tage her ist, dass die kurdische Stadt Kobanê von kurdischen Kämpferinnen und Kämpfern zurückerobert wurde. Der sogenannte Islamische Staat (IS) griff das im Jahre 2014 von Kurdinnen kontrollierte Gebiet (Rojava) im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei an und kesselte die Stadt ein. Ein Teil der Menschen ergriff die Flucht, während ein anderer Teil ihre Häuser nicht verließ und sich dem Feind tapfer stellte. Durch die kurdischen Kämpferinnen wurde die Stadt im Jahre 2015 befreit. Mark Mühlhaus fotografierte Alltagsszenen aus Kobanê nach der Befreiung vom IS im Herbst 2014 und Frühjahr 2015.

Zu Gast waren am Tag der Eröffnung der Fotoausstellung „Back to Rojava – Bilder des kurdischen Aufbruchs“ Maja Hess und Therese Vögeli von medico international Schweiz. Nach der Eröffnungsrede berichteten sie über ihre Reise nach Êfrin, über ihre Erlebnisse und Erfahrungen die sie während ihrem Aufenthalt in Rojava machten. Sie beschrieben die basisdemokratischen Strukturen, die Gleichberechtigung der Frauen, gleichzeitig die Abschottung der Menschen von der restlichen Welt, die Zerstörung der Region, den Mangel an essentiellen Mitteln, wie medizinische Versorgung oder Nahrung. Sie sprachen über die Hoffnung, den Mut und die Hilfsbereitschaft der Kurdinnen, die ihre eigenen Grundbedürfnisse nicht befriedigen können und die dennoch das wenige was sie haben, mit den Vertriebenen teilen: Ihre Löhne, ihren Wohnraum, ihr Brot.

Sie erzählten, wie sie von den Träumen und Hoffnungen der Menschen in Rojava angesteckt worden zu sind, sich aber, kaum in Europa angekommen, fragten, wie es nun weitergehen soll mit dem Land, das so zerstört worden ist und das immer noch von allen Seiten bedroht wird.

Sie erweckten bei den ZuhörerInnen auf der einen Seite das Bild von verwundbaren Menschen, die völlig aufgelöst zum in der Nähe gebauten Krankenhaus eilten, weil sie einige Tropfen Blut sahen, auch wenn es sich um das Blut eines in den Trümmern spielenden Kindes handelt, das sich dabei am Kopf verletzt hatte. Sie seien stark traumatisiert vom Krieg, sodass jeder Tropfen Blut sie erschrecke, sie an das erinnere, was vor kurzem erst war und was jederzeit erneut geschehen kann.

Erst Anfang diesen Jahres besetzte das türkische Militär die Stadt Êfrin, dschihadistische und türkische Gruppen wurden in den Häusern der dort Lebenden angesiedelt, die türkische Flagge wurde gehisst. Für Erdogan ist aber noch lange kein Ende in Sicht, vielmehr will er die basisdemokratischen Strukturen, vor allem aber das Freiheitsstreben der Kurdinnen zunichte machen und weiter vorrücken. Obwohl das militärische Eindringen als völkerrechtswidrig gilt, schweigt die Welt und lässt den türkischen Präsidenten das in die Praxis umsetzen, was er schon lange vorhat: Die Vernichtung des kurdischen Traums von Freiheit.

Trotz all der Grausamkeiten, die sich heute, im 21. Jahrhundert, in Rojava abspielen, erzeugen die Bilder der Ausstellung neben der Verletzlichkeit und Verwundbarkeit der dort Lebenden, auch ein Gefühl der Kraft, der Menschlichkeit und der Vielfalt. Als wäre das lang Ersehnte endlich wahr geworden. Die Befreiung Kobanês war für die Menschen ein Lichtblick, ein Hoffnungsschimmer, ein Fels in der Brandung, an den sie sich klammern konnten. Ein Mann sagte, so berichtete Maja Hess, er und sein Volk würden nicht die finanzielle Unterstützung, Lebensmittel oder ähnliches am meisten benötigen. Sie seien zwar auf all diese Güter angewiesen, aber tief im Herzen wünschen und brauchen sie nur eines: Ein Leben in Freiheit.

Am Mittwoch berichtete der Journalist Anselm Schindler über die Geschichte Kurdistans und über seinen Aufenthalt in Rojava. Er wies auf die Wichtigkeit der ökologischen Projekte in Rojava hin und stellte die Kampagne „Make Rojava Green Again“ vor.

Der Boden in Rojava und in ganz Syrien sei durch den Krieg sehr stark geschädigt und zerstört worden. Ohne einen fruchtbaren Boden sei das gesamte Projekt Rojava schwer umsetzbar, weil er die wichtigste Lebensgrundlage für Mensch und Tier darstelle. Im Moment laufe unter anderem das Projekt, zehntausende Bäume in Rojava zu pflanzen, und das eines Recyclingprogramms. Durch die geplanten und angedrohten Angriffe der Türkei jedoch seien alle Projekte und vor allem die Bevölkerung in Gefahr.

Das Leben so vieler Menschen darf nicht von der Willkür der Großmächte abhängig sein, jeder Mensch hat das Recht auf Selbstverwirklichung, das Recht auf ein würdevolles – und das Recht auf ein freies Leben.

Die Fotoausstellung und das Programm im Konstanzer Bürgersaal hat nicht nur das Potenzial, die BetrachterInnen zu berühren. Sie animiert dazu, Aufmerksamkeit für ein Volk zu schaffen, das einmal mehr allein gelassen wurde, allein im Schatten eines Krieges, allein im Schatten dessen, was sich „Vergessen“ nennt.

Zînê Menuṣ (Fotos: Andreas Sauer, Mark Mühlhaus)