Entweder heiraten oder Selbstmord

„Die Jugend ist verschwendet an die jungen Leute.“ Das Zitat wird Oscar Wilde zugeschrieben und derzeit vom Unitheater in einer zynisch- depressiven Inszenierung von Bruckners „Krankheit der Jugend“ hinterfragt. Sehenswert und verstörend, beides gleichermaßen, meint unsere Autorin.

Die Jugend ist die schönste Zeit im Leben. So heißt es immer mal wieder und schon schwelgt man in Erinnerungen. Die erste große Liebe! Durchtanzte Nächte! Das Studium! Und diese unendliche Freiheit! Keine festen Jobs, keine festen Partner, keine Kinder, keine Haustiere, keine Steuererklärungen – was waren das doch für herrliche Zeiten! Würde man weiter darüber nachdenken, was man nicht tut, weil ja dann wieder der Job, der Partner, die Kinder, das Haustier oder die Steuererklärung auf der Matte stehen, so würde man sich auch noch an eine andere Seite der Jugend erinnern. Und davon erzählt das Theaterstück „Krankheit der Jugend“, das derzeit an der Konstanzer Uni inszeniert wird. Geschrieben von Ferdinand Bruckner im Jahre 1926 ist es auch knapp einhundert Jahre später topaktuell und musste kaum modernisiert werden – lediglich ein Macbook wurde hinzugefügt.

Dieses bekommt der Student Petrell von seiner Freundin Marie geschenkt. Sie ist ein wahres Sonntagskind, stammt aus einem wohlhabenden Elternhaus und feiert ihre abgeschlossene Promotion mit Champagner in einem sauberen Apartment, das sie mit Hausmädchen Lucy auf Vordermann bringt. Womit sie nicht rechnet, ist, dass Petrell sie für Irene verlässt, weil diese einfach mehr nach wilder Prärie duftet als die brave Marie. Ihre Welt bricht zusammen, sie erfährt den ersten Liebeskummer und stürzt sich in einen wilden Exzess. Dabei wird sie von Desiree begleitet, einer jungen emanzipierten Frau, die weiß, was sie will und vor allem was nicht. Freder zum Beispiel. Der ist zwar gut im Bett, aber auf Dauer doch nicht das Wahre. Gemeinsam testen sie Grenzen einer Mädchenfreundschaft aus.

Überhaupt geht es um Grenzen und deren Überschreitungen. Drogen, Alkohol, gesellschaftliche Konventionen und die Liebe. Marie liebt Petrell, Petrell liebt Irene, Desiree liebt Marie, Lucy liebt Freder, und Freder liebt Schnaps.

Sex, Drugs and Suicide

Die Bar steht als Lebensmittelpunkt im Stück. Barkeeper ist Alt, eine Figur, die immer wieder ins Stück eingreift. Alt ist weder männlich noch weiblich – Alt ist beides, hervorragend dargestellt von Laura Sauer und Stefan Gritsch. Sie sind nicht nur das Barpersonal, sondern wechseln ihre Rollen mit jeder Szene und entertainen, bis der Arzt kommt. Es geht also im Subtext nicht nur um die Jugend, sondern auch darum, was diese eben gerade nicht ist: väterlicher Ratgeber, moralisches Gewissen, Stimme der Vernunft, innerer Dialog, Ratgeber, Retter, Beständigkeit.

Um dorthin zu gelangen, gibt es laut Freder nur einen Weg: die Verbürgerlichung, sprich Heirat. Sie ist die einzige Möglichkeit, lebend aus dem Spiel der Jugend herauszukommen, einzige Alternative wäre der Suizid. Dieser liegt Desiree näher: „Alle Menschen sollten sich mit 17 erschießen, es gibt dann nur noch Enttäuschungen“, proklamiert sie zu Beginn. Mit atemberaubenden Sätzen wie diesen umschreibt Bruckner die enge Verbindung von Jugendlichkeit und Todesnähe, Sätze die herabknallen wie Guillotinenmesser. Stellenweise hätte es dem Stück gut getan, wenn diese ein wenig mehr Wirkung erhalten hätten und nicht in so einem rasanten Tempo aufeinander geprallt wären.

Aber auch das ist eben ein Kennzeichen der Jugend – das Tempo. Und dieses hat von Anfang an Einzug gehalten in die Inszenierung unter Thomas Fritz-Jung, der seit diesem Semester das Unitheater leitet. Zu einem Soundtrack, der von Massiv Attack bis System of a down und von José González bis Rammstein reicht, bereiten die Studentinnen und Studenten den Theaterstoff wirkungsvoll auf. Besonders beeindruckend ist dabei die schauspielerische Leistung, die das Ensemble hervorbringt. Da ist eine meisterhafte Marlene Marek zu sehen, die in der Figur der Desiree mit ihrer Souveränität so selbstverständlich auftritt, dass sie auch auf einer großen Bühne faszinieren würde – umso mehr erstaunt diese Leistung in der studentischen Inszenierung.

Von der Barbie zur Furie

Aber auch Charlotte Zeidler als Marie überzeugt. Besonders in der zweiten Hälfte des Stückes, wenn sie die Hüllen ihrer barbiehaften Medizinstudentin fallen lässt und endlich einmal nicht mehr nett lächelt, sondern brüllt und tobt und schreit und vollkommen ausflippt. Ihr Herzschmerz wird so gewaltig, dass sie sich nach körperlichem Schmerz sehnt, um diesen zu verdrängen. „Schlag doch zu! Schlag doch zu!“, brüllt sie Freder verzweifelt an. Louise Parche als Irene und Charlotte Lott als Lucy fügen diesen beiden starken Frauen zwei weitere Facetten der Weiblichkeit hinzu. Sie zeigen Strebsamkeit und Unterwürfigkeit.

Die beiden männlichen Figuren Freder und Petrell sind ebenfalls gegensätzlich angelegt. Der alkoholaffine Womenizer Freder ist im zwanzigsten Semester und arbeitet ausschließlich an seinem Pegel. Aaron Holland spielt diesen Charakter engagiert und man nimmt ihm sowohl den Don Juan als auch den Taugenichts ad hoc ab. Er lächelt nur über Otto Petrell oder „Bubi“, wie der zarte Poet auch genannt wird. Lukas Lautenschlager stellt diesen mit Witz und Charme dar und bringt das Publikum schon mit kleinen Gesten zum Lachen.

All das endet in einer wilden Orgie zur Treuefrage, ein Dämonentanz der Jugend, der die Beteiligten in einem komatösen Zustand erwachen lässt. „Meine Leber schmerzt“, klagt Freder. „Es wird Zeit, dass du heiratest“, entgegnet Desiree zynisch und wählt ihren Ausweg aus dem Dilemma, wie eingangs angekündigt. Standing Ovation am Ende. Absolut verdientermaßen.

Veronika Fischer


Weitere Termine: 15.1., 16.1., 18.1., 20.1., 23.1., jeweils ab 19.30 Uhr in der Studiobühne Konstanz.