Stuhlkreis mit Berbern
„Sind Sie auch Deutscher?“, mit dieser Frage seien sie beim Betteln oft konfrontiert, berichten Mike und Dirk im Rahmen des offenen Uni-Seminars „Ab heute anders! Vom schlechten Gegebenen und den Möglichkeiten, es zu ändern“. Im Konstanzer Bürgersaal kamen vergangenen Donnerstag etwa 20 StudentInnen und interessierte Bürger zusammen, um im Gesprächskreis etwas über Menschen zu erfahren, denen in der Gesellschaft nur wenig Platz eingeräumt wird: Wohnungslose.
Einer von ihnen ist Mike Freyer, der sich mit Anfang 40 entschied, seinen Beruf aufzugeben, um mit dem Rad durch Deutschland und Europa zu fahren und auf der Straße zu leben. An diesem Abend wird er von seinem Freund Dirk begleitet, ebenfalls wohnungslos, seit 30 Jahren.
Sie sind zwei von geschätzt 52.000 Menschen, die in Deutschland nicht nur keine eigene Wohnung haben, sondern gänzlich auf der Straße leben. Mike ist einer der Wenigen, die sich ganz bewusst dazu entschieden haben. „Es war ein gesteuerter Ausstieg“, lässt er die Zuhörer wissen, die aufgefordert sind Fragen zu stellen. Als Bauingenieur weiterzuarbeiten sei nicht mehr denkbar gewesen – heute würde man von einem Burnout sprechen. Aber statt medizinischer Hilfe oder einer befristeten Auszeit war für ihn vor 16 Jahren klar: Ab heute anders!
Um sein altes Leben abzuwickeln, jobbte er zu Beginn eine Weile als Kurierdienst-Fahrer, überließ dann seiner Lebensgefährtin Hab und Gut und machte sich mit dem Rad auf den Weg, Rhein und Donau folgend, unter anderem bis nach Wien.
„Die ersten zwei Jahre waren hart“, es hätte den einen oder anderen erfahrenen Berber gebraucht, um das Leben auf der Straße zu lernen, und immer zu wenig Geld! Inzwischen ist alles Alltag: Ausrödeln, so nennt es sich eine Schlafstelle aufzubauen, Deutschlandfunk hören, schlafen, um 6 Uhr aufstehen, Schlafplatz aufräumen, irgendwo Kaffee trinken. Danach gegebenenfalls arbeiten, sonst nach Bedarf betteln, nachmittags mit dem Hund spazieren gehen, selten Kino oder gar Theater.
Was braucht es, um ohne Wohnung zurechtzukommen? Soziale Kontakte und Geduld: „In unserer Gesellschaft herrscht Ehrlichkeit“. Man helfe sich und das schätze er sehr. Natürlich gäbe es auch Konflikte, leider auch Alkohol- und Drogenprobleme, aber das komme schließlich in jeder sozialen Schicht vor, nur „wir haben keine Tür“, um Probleme zu verbergen. Das gemeinhin verbreitete Bild vom trinkenden und verwahrlosten Obdachlosen will im Gespräch mit Mike nicht aufkommen. Er redet offen über sein Leben, seine Ansichten und Probleme und macht dabei einen sehr gelassenen Eindruck. Sein einziges Laster sei das Rauchen – zum Nachteil seiner Finanzen.
Wohnungslose haben, sofern sie nicht arbeiten, aber „arbeitsfähig“ sind, Anspruch auf Arbeitslosengeld II. Viele lassen sich das Geld täglich an den entsprechenden Zahlstellen bar ausbezahlen, da sie trotz Rechtsanspruch kein Konto besitzen. Für einen Alleinstehenden liegt der Tagessatz bei etwa 14 Euro. Mike sagt, er habe fixe Kosten von 7 bis 8 Euro pro Tag, davon 1,80 Euro für den Hund. Wer Sanktionen durch das Jobcenter vermeiden will, muss sich laut Eingliederungsvereinbarung um eine zumutbare Arbeit bemühen. Wer aber draußen lebt, schreibt nicht mal eben schnell eine Bewerbung und holt einen sauberen Anzug aus dem Schrank.
Unter anderem deswegen ziehen viele Obdachlose von Stadt zu Stadt, so erspart man sich die Jobsuche, steht allerdings vor anderen Herausforderungen. In jeder neuen Stadt müssen Anträge auf Unterstützung gestellt werden, das sei teilweise – so wie in Konstanz – mit langen Bearbeitungszeiten verbunden, in denen es kein Geld gibt. „Die Städte wollen uns nicht“, beschließt Mike die Ausführungen.
Sein Leben auf der Straße würde er auch mit einem bedingungslosen Grundeinkommen nicht aufgeben, solange der Körper es mitmache. Freiheit und Solidarität innerhalb seiner Community kann ihm in dieser Form kein anderes Lebensmodell bieten. Das Alter ist für Mike und Dirk kein Bedrohungsszenario – wenn es nicht mehr geht, dann geht es halt ins Altersheim. Dirk hat sich diesbezüglich schon eine Wunschliste zusammengestellt.
Und wer setzt sich nun für die Belange der Obdachlosen ein? Mike verliert darüber nicht viele Worte, es gäbe schon Obdachlosenorganisationen, auch hilfreiche Webseiten, die über Zahlstellen und Wärmestuben informieren. Aber es scheint, als verlasse er sich lieber auf sich und seine Community.
Mike Freyer hat sich sein Leben ausgesucht, er hatte eine Wahl. Andere allerdings nicht. Viele verstecken ihre Obdachlosigkeit, trauen sich nicht zu betteln, auch wenn das Geld knapp ist. Wie in jeder Gesellschaftsschicht gibt es Leute, die aus ihrer Situation das Beste herausholen. Jemand, der dazu nicht in der Lage ist, hat in Mikes Welt nicht viel zu lachen.
Wer Mike oder Dirk treffen will, der muss in der Stadt nur die Augen aufhalten. Dirk, sehr gut gekleidet, mit Fahrrad, Mike mit wildem Bart und Liegerad. Ein kurzes Gespräch verspricht dem Passanten unter Umständen ein ganz neues Bild auf eine vielfach verborgene Welt.
Ingo Walker (Text & Fotos)
Mehr Informationen zur Seminarreihe hier.
Informativer Bericht. Die im Text genannte Zahl von Menschen, die auf der Straße leben, scheint mir allerdings zu niedrig gegriffen. Wie viele Menschen in der Bundesrepublik derzeit kein festes Obdach haben, kann nur geschätzt werden. Denn eine gesetzliche Grundlage für eine einheitliche Wohnungsnotfall-Berichterstattung gibt es nicht, allein das schon ein kleiner Skandal und ein Hinweis darauf, welchen Stellenwert dem Problem eingeräumt wird. Wir sind auf Schätzungen angewiesen, etwa der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW). Danach gab es 2018 deutschlandweit über eine halbe Millionen Menschen ohne Bleibe. Zum Vergleich: 2010 waren es noch 248.000, 2016 dann schon 335.000, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken hervorgeht. Die Hauptgründe für diese Zunahme laut BAGW: Das unzureichende Angebot an preiswertem Wohnraum und unzureichende staatliche Armutsbekämpfung.