Ab ins Irrenhaus!

Es gibt Konzerte, die verpasst zu haben einem ein Leben lang weh tut. Bach an der Orgel etwa oder das Konzert am 22. Dezember 1808, in dem Beethoven, seine 5. und 6. Sinfonie sowie sein 4. Klavierkonzert uraufführte. Mein verpasstes Lieblingskonzert aber (oh Ungnade der späten Geburt!) fand am 31. März 1913 im Wiener Musikvereinssaal statt und ging als „Watschenkonzert“ in die Musikgeschichte ein. Ein zentrales Werk jenes denkwürdigen Abends gibt es demnächst in Konstanz zu hören.

Zu den Geburtswehen der neuen Musik kurz nach 1900 zählte der offene Hass des Publikums, und dieser Hass brodelte natürlich nirgendwo stärker als direkt an der Quelle der neuen Musik, in Wien nämlich. Hier brüteten einerseits Schönberg und sein Kreis, später als „zweite Wiener Schule“ in die Musikgeschichte eingegangen, nur zehn Jahre nach dem Tod von Brahms eine epochale Umwälzung der Musik aus. Die Masse der „gehobenen“ KonzertgängerInnen hingegen erwies sich in der operetten- und walzerseligen Donaumetropole als besonders harthörig und zutiefst reaktionär – übrigens nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch.

Gelächter und Pfiffe

Dieses Konzert hatte von vornherein das Zeug zum Skandalon, denn Teile des Publikums hatten wohl Pfeifen mitgebracht und waren scheint’s fest entschlossen, das Konzert zu sprengen. So etwas kennt man heute ja gar nicht mehr: Leute, die Eintritt für ein Konzert zahlen, um dort Musik zu verhindern. Am Dirigentenpult stand Arnold Schönberg persönlich, und er wollte neben einem eigenen Stück unter anderem auch Werke seiner Schüler Anton von Webern (später: Anton Webern) und Alban Berg vorstellen. Es kam, wie es kommen sollte: Weberns sechs Orchesterstücke op. 6, denkbar knappe Meisterwerke von im Schnitt nur 2 Minuten Spieldauer, ernteten Gelächter und Pfiffe, und die Presse schrieb später von „musikalischen Wüsteneien“. Beim übernächsten Programmpunkt, Schönbergs wegweisender Kammersinfonie No. 1, gab es nicht nur Störgeräusche aus dem Publikum, sondern auch schon erste körperliche Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern Schönbergs und seiner Schüler.

Das Ende der Fahnenstange war schließlich mit den Nummern 2 und 3 der „Fünf Orchesterlieder nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg“, op. 4 von Alban Berg, erreicht. Altenberg, das Urbild des Kaffeehausliteraten und immer wieder Insasse diverser Nervenheil- und Entzugsanstalten, genießt für seine Miniaturtexte bis heute eine gewisse Verehrung. Die Bergsche Vertonung zweier seiner Stücke sorgte dann aber für ordentliche Tumulte im Saal, die schnell in allgemeine Tätlichkeiten zwischen Anhängern und Gegnern der neuen Musik übergingen. Webern rief „Hinaus mit der Bagage!“, während aus dem Publikum gebrüllt wurde, die Komponisten gehörten in die Irrenanstalt.

Der ebenfalls anwesende Arthur Schnitzler notiert in seinem Tagebuch: „Ungeheure Skandale. Alban Berg’s alberne Lieder. Unterbrechungen. Gelächter. … Einer im Parkett: ‚Lausbub‘. Der Herr vom Podium ins Parquet, unter athemloser Stille; haut ihm eine herunter. Rauferei allerorten.“ Auch von geworfenen Stuhlbeinen und Zahnprothesen war die Rede. In der Presse war zu lesen: „Es war kein seltener Anblick, daß irgend ein Herr aus dem Publikum in atemloser Hast und mit affenartiger Behendigkeit über etliche Parkettreihen kletterte, um das Objekt seines Zornes zu ohrfeigen.“

Schönberg brach die Aufführung ab, forderte vom Dirigentenpult die Störer auf, den Saal zu verlassen, und drohte mit der Polizei. Die war auch zur Stelle, und Polizeioberkommissar Dr. Leinweber rief zur Ruhe auf. Als aber die allgemeine Rauferei kein Ende nahm und man im Saal die Ohrfeigen nur so klatschen hörte, ließ er das Licht abschalten, einige Randalierer aus den besseren Kreisen verhaften, und alle gingen nach Hause – oder ins Kaffeehaus. Der letzte Programmpunkt, Mahlers „Kindertotenlieder“, fiel ersatzlos aus, und Publikum und Presse hatten ihren Skandal.

Das Klangvollste des Abends

Unvergessen ist ein Bonmot des Operetten- und späteren Hollywoodkomponisten Oscar Straus in der anschließenden Gerichtsverhandlung. Er antwortete auf die Frage, ob er in diesem Tumult denn eine Ohrfeige gehört habe, das habe er, und die sei „das weitaus Klangvollste des ganzen Abends gewesen“. Herr Straus, Schöpfer von Musik der seichtesten Art, war erkennbar kein Freund der musikalischen Avantgarde …

Schönberg seinerseits gab einer Zeitung ein Interview, in dem er verstörend weltfremd argumentierte: „Ich habe mir vorgenommen, bei derartigen Konzerten nur dann noch mitzuwirken, wenn auf den Eintrittskarten ausdrücklich vermerkt ist, dass die Störung der Vorträge nicht gestattet ist.“ Als ob das eine zünftige Konzertsaalschlägerei verhindern könnte. Er konstatierte aber auch ganz richtig: „In Wien setzt man leider moderne Konzerte nicht als künstlerische Angelegenheiten, sondern als politische auf. Wie eine Sache aufgenommen werden soll, das ist schon vorher bestimmt, die Leute kommen in ein Konzert mit einer festen vorgefaßten Meinung.“

Man mag es bedauern oder auch nicht: Heutzutage haben die MusikerInnen, selbst der Dirigent Michael Hofstetter und die Sopranistin Sarah Wegener (Foto), keine Prügel mehr zu befürchten, wenn sie Schönberg, Berg oder Webern spielen. Die Südwestdeutsche Philharmonie hat daher gleich zwei dieser ehemaligen Skandalkomponisten auf ihr nächstes Programm gesetzt: Anton Weberns luftiges Jugendwerk „Im Sommerwind“, ein spätromantisches Orchesterstück zum Dahinschmelzen, ebenso wie Alban Bergs für heutige Ohren bezaubernden „Fünf Orchesterlieder nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg“, die damals den Skandal auslösten und heute zu den Klassikern der Moderne zählen. Außerdem gibt es Schubert-Lieder in der Orchesterfassung von Max Reger und schließlich Schuberts 3. Sinfonie. Letztere ist wie das erste Werk des Abends ein Jugendwerk – aber was heißt schon „Jugendwerk“ bei Schubert, dessen Spätphase bereits mit 31 Jahren relativ abrupt endete, als er nach seinen letzten Klaviersonaten an irgendeinem der damals ziemlich populären Fieber und Blutstürze verstarb?

Harald Borges (Foto: Simon Wagner)


Wann und wo? Freitag, 25. Januar, 19.30 Uhr, und Sonntag, 27. Januar, 18 Uhr, im Konzil Konstanz. Eine Stunde vor Konzertbeginn findet im Probenstudio der Südwestdeutschen Philharmonie nebenan ein Einführungsvortrag statt.

Karten sind beim Stadttheater Konstanz (07531 900-150), bei der Südwestdeutschen Philharmonie (9.00 Uhr bis 12.30 Uhr) und bei der Tourist-Information am Hauptbahnhof sowie in allen Ortsteilverwaltungen erhältlich. Tickets können auch im Internet gekauft und per print@home ausgedruckt werden unter: www.philharmonie-konstanz.de.


Quellen:
nmz.de | Historismus der Moderne: die Rekonstruktion des Wiener „Skandalkonzerts“ von 1913
orf.at | Konzertsaal als Kampfarena
Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien | 31. März 1913: Wiens größtes „Skandalkonzert“