„Beuys pack ich nicht“

Regionale Galerien zeigen meist regionale Kunst. Nicht so in Steckborn. Dort findet sich mit der Galerie Kirchgasse eine Institution, die sich in einer Metropole vollkommen unauffällig ins Stadtbild fügen würde. Aktuell werden dort bis Ende März Werke des Künstlers Philipp Schwalb gezeigt, der mit seinen „Nakkis“ naive Malerei mit philosophischem Unterbau präsentiert. Am 9. Februar war Vernissage mit einer ungewöhnlichen Convention.

Steckborn ist eines von den kleinen Dörfern am Bodenseeufer, das anmutet, als wäre es aus einer Modelleisenbahnlandschaft gefallen. Fachwerk ziert die niedrigen Häuser, Kopfsteinpflaster die Straßen und eine feierliche Ruhe die Sonntage. Man erwartet also nicht viel, wenn man durch die kleinen Gassen schlendert. Schon gleich gar nicht einen Treffpunkt der internationalen Kunstszene und eine Convention mit kulturtheoretischen Diskursen. Gibt es aber. In der Kirchgasse. Die Adresse ist zugleich der Name der kleinen Galerie mit blauer Außenfassade. Hier ist an diesem Samstagnachmittag ein reges Kommen und Gehen, während das restliche Dorf ausgestorben scheint. Englische, französische und deutsche Satzfetzen schweben durch die Gasse hoch zum Kirchturm, Menschen mit großen Brillen und langen Mänteln drängen sich in die Galerie. Künstler sind aus Neapel angereist, Sammler aus München und Liebhaber der modernen Malerei aus London. Es ist Vernissage.

15 Uhr, eine ungewöhnliche Zeit? Das habe zwei Gründe, so Galerist Erich Hausammann. Zum einen erlaube es die Uhrzeit Gästen aus nahegelegenen Großstädten für einen Tag anzureisen. Viele seiner BesucherInnen – und auch die KünstlerInnen – haben kleine Kinder, die mit dabei sind. „So brauchen sie keinen Babysitter und können trotzdem kommen“, sagt der Galerist. Zudem wolle er keine Standardvernissage. Daher verzichtet er auch auf den Part der Laudatio und startet stattdessen die Steckborn-Convention mit Vorträgen und musikalischen Darbietungen. Ihm geht es darum, einen Ort für internationale Kunst in der Peripherie zu schaffen. Und das funktioniert. „Wir waren mit unseren Ausstellungen schon im Wall Street Journal“, so Hausammann. Er sieht seine Institution als Schnittstelle von musealen Figuren, die Bezugspunkte für junge Künstler sein dürfen. Im Juli kommt André Butzer wieder nach Steckborn. Seine Werke sind in New York und Tokyo zu sehen und erzielen Preise im sechsstelligen Bereich.

Aktuell zeigt das Galeristenpaar Heidy und Erich Hausammann die zweite Einzelausstellung des Genfer Künstlers Philipp Schwalb, Jahrgang 1984. Gemeinsam mit Leo Lencsés, der auch für die Münchner Kunstsammlung Goetz tätig ist und hier in Steckborn das Programm leitet, haben die Galeriebetreiber die Werke ausgewählt. In den Räumlichkeiten ist nicht viel Platz und sie setzen auf ein Weniger, das mehr ist. So hängen derzeit vier Gemälde und eine Art Raumtrenner in der Galerie. Zudem ist eine Skulptur aus einem Plakat, einem Flyer der Ausstellung plus einem Stück Draht ausgestellt, das auf den ersten Blick wirkt, als wäre es dort zufällig platziert oder vergessen worden. Gut, dass hier kein Reinigungspersonal unterwegs ist, das der Kunst von Joseph Beuys zweimal zum Schicksal wurde: 1973 wurden in einer ausgestellten Badewanne die Gläser einer Party gespült und 1986 eine Fettecke vom Hausmeister der Düsseldorfer Kunstakademie entsorgt. Schwalb selbst kommt nicht über diesen Bogen zu Beuys, sondern über die Wahl seines Materials – der Draht ist aus Kupfer. Er aber wählt die Leichtigkeit, im Gegensatz zu Beuys, der Kupfer in massiven Plattenblöcken präsentierte. „Beuys war für mich als Teenager sehr wichtig“, so Schwalb, „aber jetzt pack ich seine Visualität nicht mehr. Das ist mir zu schwer. So eine ganze Ausstellung ertrag ich nicht.“

Für Schwalb als Künstler ist Beuys als Referenzpunkt immer noch präsent. Soziale Themen beispielsweise tauchen in seinen Werken auf. Eben hier im Kupferdraht. Dieser ist Element von Stromkabeln, ein leitendes Medium, notwendig für Kommunikation. Schwalb interessiert die Darstellbarkeit: Wie lässt sich ein Kupferdraht malen? Als Linie? Gold und Silber sind ihm zu kitschig, für ihn steht die Funktionsweise des Materials im Vordergrund.

It’s all about Nakkis, Wezen und Bias

Seine Gemälde bezeichnet der Künstler als „Farberguss“. Auf einem Raumtrenner zeigt Schwalb die Zusammenhänge der drei elementaren Figurentypen auf. Es ist ein „hingerotztes Diagramm“, wie der Künstler selbst diese Arbeit bezeichnet. Grundsätzlich bezieht er sich mit dieser Dreiteilung des Figurativen auf die Philosophie Hegels. Ähnlich wie in dessen Trias von Idee, Natur und Geist gibt es in Schwalbs Werk drei Zugänge: emotional, körperlich und abstrakt. Übersetzt finden sich diese in Wezen, Nakkis und BIAs. Bei Kirchgasse ist die Auswahl der aktuellen Ausstellung auf Nakkis beschränkt.

Diese entwickeln sich aus den Wezen, die aus geometrischen Formen und Farbfeldern zusammengesetzt sind. Die Wezen wiederum entstehen aus den BIA-Arbeiten, welche mittels schlanken Bildfiguren die rationale Basis des Schwalb’schen Oeuvres darstellen. Die Nakkis hingegen sind konkret. Kindlich naive Darstellungen, ein wenig Dada, nicht nur in den Titeln. „Tony Montana (Schauspieler/Gangster) mit Vandlungs-Instrumenten (…) in Helldunkelkleidung (70tiez)“ lautet beispielsweise einer. In anderen Werken des Künstlers finden sie sich bekleidet, hier in der Ausstellung jedoch nicht. Stattdessen nackte Personen in der Natur, ein kunsthistorisch beliebtes Sujet – denken wir an Otto Muellers „Mädchen am Wasser“, Ernst Ludwig Kirchners „Badende“ oder „Der Tanz“ von Henri Matisse. Schwalbs Nakkis stehen in Landschaften, mal Wüste, mal Urwald, mal ewiges Eis, und kommunizieren mittels Smartphone. Mit wem? Interpretationssache.

Convention of more Sense in Leif + Love

Als Künstler sieht Schwalb sich nicht als heroische Figur mit den besten Wahrheiten und größten Werken, sondern vielmehr als ein Konglomerat an Negationen. Der Künstler ist kein Held. Er setzt sich zusammen aus x Eigenschaften, die er nicht besitzt. Schwalb sieht die Funktion des Kunstschaffenden in dessen persönlicher Ambivalenz. Das Ich ist wichtiger als der Künstler. So erklärt sich auch der Ausstellungstitel „O ICH T“, denn das Ich steht im Zentrum, ist Quelle, Bild und Licht. Nicht das Werk des Künstlers steht im Vordergrund seines Schaffens, sondern die Person. Und diese beschäftigt sich im Fall Philipp Schwalb auch mit der Theorie. Einen Einblick in diese Arbeit gibt er am Vernissagenachmittag zusammen mit Anne Gruber, Kunsthistorikerin aus Zürich. Sie deklinieren eine Tafel mit Symbolen und Gemälden aus Aby Warburgs Bilderatlas „Mnemosyne“, der anlässlich seines 150. Geburtstags am ZKM in Karlsruhe vollständige rekonstruiert wurde. Unter anderem mit Beiträgen von Gruber und Schwalb . In der Steckborn-Convention berichten sie über ihre Arbeit. Es geht um die Darstellung Medeas, die als Kindsmörderin oder Feministin interpretiert werden kann – je nach Lesart der Bilder. Im Anschluss referiert Yannic Joray über die Ananas als Symbol des Okkultismus bei Warburg. Mitgebracht hat er ein Poster, das voller Referenzen und Informationen ist. Schriftgröße 9. Man ahnt – es ist komplex. Das ist es aber, worum es geht, auf dieser Convention, die den Untertitel „of more Sense in Leif + Lof“ trägt. Das ist es, was Steckborn attraktiv macht für das internationale Publikum. Es ist eine Ausstellungseröffnung der anderen Art. In den Worten des Künstlers ist es das Opening, dem ein generatives Moment und ein ganzheitlicher Traum geschenkt werden.

Veronika Fischer (Foto: Anja Mai; das Bild zeigt den Blick von außen auf die Steckborn-Convention der Kirchgasse Galerie)


Galerie Kirchgasse, Kirchgasse 11, Steckborn. Website: www.kirchgasse.com – „O ICH T“ ist noch zu sehen bis 30. März, Donnerstag und Freitag 11-18, Samstag 10-17 Uhr,