Die Gnade der fasnächtlichen Wiedergeburt

Hunderte Unterstützer einer „Petition“ fordern Nachsicht für die Lieder des Fasnachts-Komponisten Willi Hermann, der nachweislich ein NS-Täter war. Dadurch verweigern sie den Opfern der NS-Zeit trotzig das Mitgefühl. Museumschef Tobias Engelsing, selbst jahrzehntelang aktiver Bühnennarr, nimmt dazu Stellung.

Als ich vor fast vier Jahrzehnten zum ersten Mal über Lebensläufe im Nationalsozialismus im „Südkurier“ publiziert habe, schmähten mich kurz darauf die einstigen Täter, Mitläufer und Profiteure: Ein „Nestbeschmutzer“ sei ich, einer, der Vergangenes „unselig“ wieder aufrühre, wo doch „endlich“ ein „Schlussstrich“ nötig sei. Seit Marc Ellegast zur Ehrenrettung der Lieder des NS-Täters Willi Hermann zu einer „Petition“ aufgerufen hat, tönen uns diese Verharmlosungen deutscher Geschichte wieder ins Ohr. Doch dieses Mal fordern nicht wenige Enkel der NS-Zeitgenossen zum allgemeinen Gedächtnisverlust auf.

So soll bei Willi Hermann ein denknotwendiger Zusammenhang zwischen den einstigen Taten des abgrundbösen Judenhetzers und der wenige Jahre später aufgesetzten Maske des fasnächtlichen Biedermanns nicht gelten. Hunderte Konstanzer beharren derzeit geradezu wütend darauf, jederzeit selbst bestimmen zu können, was sie an Fasnacht singen wollen, ohne auf moralische Einwände, auf das Empfinden von Überlebenden oder Opfer-Nachfahren oder gar auf neue historische Fakten achten zu müssen. Die betroffene Narrengesellschaft „Niederburg“ hält mit bewundernswürdiger Courage dagegen: Für sie sind diese Lieder aus guten Gründen erledigt.

Doch bei vielen der Lied-Verteidiger ist ein neuer, besorgniserregender Ton in der im Netz geführten Debatte zu vernehmen: Dubiose Bauchgefühle werden als legitime Grundlage der eigenen Urteilsfindung verteidigt – wer braucht da noch historische Fakten und Zusammenhänge! Nicht nachprüfbare Argumente bestimmen den Meinungsstreit, sondern Zorn und Ressentiments. Diese Tonlage kennen wir inzwischen auch aus anderen politischen Zusammenhängen.

Während das durchschnittliche Rechtsempfinden vieler Menschen mit Gewalttätern sonst keine Gnade kennt, herrscht in zahlreichen – nicht in allen – der Wortmeldungen eine seltsame Milde, gepaart mit einer auffällig aggressiven Relativierung des Nationalsozialismus: Hermann habe „eine zweite Chance“ verdient, fordert einer, andere berufen sich auf den auch antisemitischen Vorfahren Richard Wagner, um Hermanns staatliche beauftragte, hauptberufliche Judenhetze irgendwie abzuschwächen.

Ausgerechnet bei der ideologischen Mitttäterschaft am millionenfachen Mord an den europäischen Juden, Sinti, Roma, Homosexuellen, Behinderten, Kommunisten, Sozialdemokraten und Widerständlern versagt auch jedes Mitgefühl mit den Opfern, ja, selbst die Achtung vor dem fortwirkenden Leid der Nachfahren. Im Falle des Schreibtischtäters Hermann soll vielmehr die Gnade des Vergessens walten: Seine Lieder seien inhaltlich doch harmlos, also Schwamm drüber und weitersingen. Ob hier lebende Nachfahren der Opfer da noch unbeschwert in Konstanz Fasnacht feiern wollen?

Die an der Konstanzer Uni lehrende aktuelle Trägerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, Aleida Assmann, äußert in ihrem Buch „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur“ einen zur Konstanzer Fasnachtslieder-Debatte passenden Gedanken: „Geschichte ist die geistige Form, in der eine Gesellschaft sich Rechenschaft von ihrer Vergangenheit ablegt.“ Darum geht es auch hier: Nach der von Stadtarchivar Jürgen Klöckler gelieferten Einsicht in die historischen Hintergründe der Vita Willi Hermann ist nun in der öffentlichen Fasnacht ein Akt verantwortungsvollen Verhaltens angezeigt. So stimmungsstiftend diese drei, vier Hermann-Lieder bisher gewesen sein mögen: sie sind es nicht mehr, seit wir wissen, wer ihr Urheber war.“

Tobias Engelsing

Foto: Eine Tanzgruppe aus Gailingen während der „Purim“ genannten jüdischen Fasnacht. Zur Vernichtung dieser ebenfalls alten Tradition haben Täter wie Willi Hermann aktiv beigetragen. (Bild: Jüdisches Bürgerhaus Gailingen)